architektur.aktuell 11/2001

architektur.aktuell 11/2001

memory

Günther Domenig: Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Nürnberg, Deutschland|National Socialist Party Congress Grounds Documentation Centre, Nuremberg, Germany

Matthias Boeckl
Schnitt-Chirurgie

Der Kongressbau am ehemaligen Nürnberger Reichsparteitagsgelände ist die größte erhaltene Bauruine des Dritten Reichs. Die gewaltige Kubatur bildet metaphorisch das Fleisch, das der Pfahl aus Stahl und Glas durchdringt. Günther Domenig, selbst in dauernder kritischer Auseinandersetzung mit seiner eigenen, traumatisch fortwirkenden Jugend in der NS-Zeit, konnte hier ein radikales Konzentrat seiner bisher entwickelten Formensprache im sinnfälligsten aller denkbaren Zusammenhänge realisieren: Die kantigen, expressiven Formen der Durchschneidung und des Aufsprengens illustrieren einen zornigen, aber auch präzisen Umgang mit Geschichte. Die historische Dokumentationsausstellung in diesem kontrastreichen Gehäuse erklärt die Hintergründe der Nazi-Monumentalplanungen für Nürnberg.


Wandel Hoefer Lorch Hirsch: Synagoge in Dresden, Deutschland|Synagogue in Dresden, Germany

Matthias Boeckl
Sprechende Steine

Keine hundert Jahre stand die erste Synagoge von Dresden. Als sie 1938 abgerissen wurde, war damit auch das architekturgeschichtliche Vergessen eines wichtigen Frühwerks von keinem Geringeren als Gottfried Semper besiegelt. Nach der Shoa, den Bombardements und dem DDR-Kahlschlag unternahm die Dresdner Kultusgemeinde nun das Wagnis, ein neues Gemeindezentrum zu errichten. An der Stelle der zerstörten Semper-Synagoge baute ein junges Saarbrückener Büro, das sich auf Memorialarchitektur spezialisiert hat, eine klare und überzeugende Neuinterpretation eines jüdischen Sakralbaus und eines – davon abgesetzten – Gemeindezentrums. Nach Zvi Heckers Duisburger Gemeindezentrum ist so am anderen Ende Deutschlands eine völlig andere Lektüre des sensiblen Programms gelungen.


Schultze + Schulze: Schutzbau für die mittelalterliche Synagoge in Marburg, Deutschland|Protective Structure for a Mediaeval Synagogue in Marburg, Germany

Dieter Bartetzko
Der Schritt vom Wege

Hie und da kommt im nordhessischen Fachwerkidyll Marburg die Lust am modernen Bauen auf. Regelmäßig antwortet ihr dann die Angst um das heile Stadtbild. Und über kurz oder lang erscheint als Schritt vom Wege, was doch nur der Versuch wäre, den Kerker des ewig Gewohnten ein wenig zu weiten. Am schalen Ende, wenn schließlich alles bleibt, wie es ist, tröstet die Erinnerung, der Versuchung widerstanden zu haben. Das war schon so, als Oswald Mathias Ungers 1980 im Hochgefühl der historisierenden Postmoderne eine Serie hübsch bunter, aber auch recht klobiger “Marburg-Häuser” gezeichnet hatte, die als Typenvarianten bei Bedarf in die alten Giebelreihen hätten eingefügt werden können. Das hätte ebenso werden können, wären die Gegner jenes “Glaskastens” erfolgreich gewesen, der nun doch am “Schlosssteig” oberhalb des Marburger Marktplatzes steht.


Peter Plattner: Umbau Farbenhaus Amonn, Bozen, Italien|Redesign of Amonn Farbenhaus (paint house), Bolzano, Italy

Matthias Boeckl
Flächen-Kunst

Als historisches, touristisches, kaufmännisches und denkmalschützerisches Sonderreservat hat die Bozner Altstadt eine spezielle Bedeutung. Der vorwiegend mittelalterliche Bestand erlaubt kaum architektonische Bewegung, es sei denn, man kann mit dem Denkmalschutz und den hierzulande immer noch privaten Eigentümerpersönlichkeiten eine höchst persönliche, auf bauliche Details konzentrierte Beziehung finden, die von Respekt gegenüber der Baugeschichte und den gesellschaftlichen Strukturen getragen ist. Peter Plattner hat es verstanden, einen lange Zeit vernachlässigten Teil des Stammhauses des regionalen Traditionshandelshauses Amonn in zweijähriger Millimeterarbeit zu einem funktionierenden Wohn- und Geschäftshaus zu rekonstruieren.


Essay

Bolzano/Bozen. Stadterinnerung|Urban Memory
Gabriele Reiterer

Zwischen den Kulturen
Wir sind deutsch, hieß es. Die Grenze war allgegenwärtig. Sie begann mit der Sprache. Die Stadt war hier deutsch, dort italienisch. Es gab für mich die rebenbewachsenen Mauern der bäuerlichen Höfe, die Laubengänge der mittelalterlichen Häuser und die atmosphärisch kühle, glatte Architektur der italienischen Viertel. Ich kannte beides, das deutsche und das italienische Bozen. 

Viktor Rogy: Glasfenster der Evangelischen Kirche von Villach, Kärnten|New Windows for the Evangelical Church in Villach, Austria

Friedrich Achleitner
Der minimalistische Eingriff

Die “Kärntner Tageszeitung” bezeichnet ihn als “eine der bestgehaßten Persönlichkeiten des Landes”, als einen “Konzeptkünstler, Körperkünstler, Dichter, Philosoph, Spielverderber”. Seine Frau ist “die radikalste künstlerische Puristin im Lande”. Die Rede ist von Viktor Rogy und Bella Ban, die unter den schwierigen Bedingungen im Lande auf ihre Weise künstlerischen Widerstand gegen ein traditionalistisches Kunstverständnis leisten. Rogys Auseinandersetzung mit Architekturthemen – die im übrigen viel mit “memory” zu tun hat – zeigt einen subtilen Dialog alter Baubegriffe mit zeitgenössischen Materialien und Interpretationsmöglichkeiten.

Pointner/Pointner/Ullmann: Aufbahrungshalle Friedhof Freistadt, Oberösterreich|Mortuary Chapel, Freistadt Cemetery, Upper Austria

Romana Ring
Vermittlung von Hoffnung

Der Tod ist uns allen sicher. Die Orte, an denen sich die Menschheit bauend mit dieser womöglich unangenehmsten aller Wahrheiten auseinander gesetzt hat, bieten – von der Pyramide bis zum schluchzenden Engel aus Stein – ein breites Spektrum an Gestaltungsvorschlägen und werden nicht nur von Historikern als Dokumente gesellschaftlicher Verhältnisse und geistiger Befindlichkeiten geschätzt. Die neue Anlage des Friedhofes in Freistadt stellt ihrem Umfeld – dem oberen Mühlviertel – ein schmeichelhaftes Zeugnis aus: Sie lebt von Ordnung, Ruhe und der Konzentration auf eine in ihrer Formensprache sehr weit zurückgenommene Mitte, die überdies nicht einmal im Zentrum der Anlage liegt. Die darin dokumentierte Einstellung der Angemessenheit und des Respekts mutet sehr demokratisch und – trotz unverkennbar christlicher, ja, katholischer Wurzeln – auch weitgehend ökumenisch an. Angesichts der unmittelbaren Umgebung: dem typischen, von ästhetischen oder auch nur vernünftigen Überlegungen durchaus unberührten Wildwuchs eines provinziellen Stadtrandes, muss ihr Wert als Repräsentation des Bauens hierorts allerdings bezweifelt werden.

Riepl Riepl: St. Franziskus Kirche in Steyr, Oberösterreich|St. Francis Church in Steyr, Upper Austria

Romana Ring
Irdische Qualitäten

Im Stadtteil Resthof sind – so wagen wir zu generalisieren – jene Steyrer zu Hause, die nicht ausdrücklich auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Blöcke aus den späten 1970er Jahren, schematisch über eine große Fläche verteilt, regen wenn überhaupt zu etwas, zu Spekulationen über den Zynismus an, solchen Wohnbau als “sozialen” zu bezeichnen. Wie baut man eine Kirche in einem solchen Umfeld, für eine Klientel, die – und wieder eine Verallgemeinerung – ihren Trost gewiss nicht zuallererst im Spirituellen sucht? Wie überhaupt soll eine Kirche aussehen, wo doch die Spiritualität selbst, ganz abgesehen von ihrer Umsetzung ins Räumliche, außerhalb gewisser, in mancher Hinsicht enger Kreise, sehr privat, ja, eine – in allgemein geläufige Sprache übersetzt – “Geschmackssache” ist? So gesehen hat der Resthof den Architekten seiner neuen Pfarrkirche, Gabriele und Peter Riepl, einen wertvollen Anknüpfungspunkt geboten: die von ihnen geplante Anlage, welche einen bereits vorhandenen Pfarrhof einbezieht, macht sich zunächst daran, die eklatanten räumlichen Defizite des Quartiers ein wenig zu lindern und seiner unbarmherzigen Gedankenlosigkeit zunächst ganz irdisch die Qualität einer offenen Struktur entgegenzusetzen. 


Small &Smart
monovolume: Brücke im Naturpark Schlern, Südtirol|Bridge in Schlern Nature Park, South Tyrol

Matthias Boeckl
Archaischer Minimalismus

Unbehandeltes Lärchenholz als ökologisch verträgliches Baumaterial in einem Naturpark: Diese sinnvolle Grundentscheidung war ein Element des Entwurfs. Die expressive Form aus Rundhölzern und die Kombination mit Stahlseilen, welche die horizontalen Windverbände bilden, folgten als weitere formgenerierende Beiträge. Drei Innsbrucker Architekturstudenten haben eine “andere” Form minimalistischer Ästhetik gewählt – nicht die filigran-geometrische, die wir alle kennen, sondern eine archaisch-rohe, die eine Art Arbeits- und Werkethos der solideren Art zu transportieren scheint, dabei aber dennoch auf High-Tech-Details nicht verzichtet. Fazit: Intelligente Lösungen sind auch ohne aufgesetzten Intellektualismus möglich.

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