Der Mensch ist träge

Change Blog # 5

The World Is Changing (c) pixabay

Ende April beklagten wir das Fehlen von Zukunftsvisionen des Bauens. Weiterhin erreichen nur wenige praktikable Strategie-Vorschläge das Licht der Öffentlichkeit. Erneut haben wir Zeit an die Planlosigkeit der Planerbranche verloren. Haben wir tatsächlich? Oder passt eh alles? Brauchen wir den vielbeschworenen „Wiederaufbauplan“ eventuell gar nicht? Grassiert bloß ein faktenbefreiter Alarmismus und wir fürchten uns zu Tode? Ein kurzer Reality Check.


 

In der aktuellen medialen Berichterstattung zur Bau- und Immobilienwirtschaft ist eigentlich keine wirkliche Krisenstimmung erkennbar. Die Baustellen ruhten nur kurze Zeit. Selbst die Arbeitslosenzahlen am Bau sind weniger dramatisch als in anderen Branchen: Hotellerie und Gastronomie verzeichneten am 30.4.2020 in Österreich furchterregende 43 % Arbeitslose, während „Wirtschaftliche Dienstleister“ (zu denen übrigens auch die Architekten zählen) zu 29 % beschäftigungslos sind – das Baugewerbe jedoch „nur“ zu 19 %. In der Tageszeitung „Die Presse“ gab sich der Wiener Immobilienfondsmanager Florian Rainer Ende April völlig entspannt bis optimistisch: Gerade jetzt „biete das Umfeld günstige Kaufchancen, die man allerdings selektiv nutzen sollte. In einigen Subsektoren seien die positiven Aussichten durchaus intakt.“ Das betreffe natürlich vor allem Wohnungen, aber auch bestimmte Gewerbeimmobilien wie Lagerhallen (Stichwort Onlinehandel) und Handelsimmobilien, sofern sie Supermärkte, Apotheken und Drogerien zu ihren Mietern zählen, und sogar Bürohäuser, sofern die Lage passe. (Ein interessanter Nebenaspekt bei Bürohäusern ist übrigens, dass die möglicherweise wegen Home Office-Aktivitäten sinkende Nachfrage kompensiert wird vom steigenden Raumbedarf des einzelnen Arbeitsplatzes wegen der auch zukünftig sinnvollen „Babyelefantenregel“.)

Wie sieht das Büro der Zukunft aus? (c) pixabay workplace-1245776_1920

Wie sieht das Büro der Zukunft aus? (c) pixabay workplace-1245776_1920

Heute, zwischen Maßnahmen, Risiken und Mindestabständen, müssen wir uns die Frage nach dem Wert des kollektiven Lebens stellen.

Hashim Sarkis

Wer sich Mut zusprechen will, dem kann vor allem mit zwei Zahlen geholfen werden: Die Hälfte des Hochbauvolumens wird vom Wohnbau geliefert, der in Österreich und Zentraleuropa nicht nur stark öffentlich subventioniert ist, sondern dank Bevölkerungswachstum auch über eine langfristig gesicherte Nachfrage verfügt. Und: Nicht weniger als ein Drittel (!) der gesamten Produktion in Hoch- und Tiefbau wird von der Wirtschaftskammer als „öffentlich“ klassifiziert. Das erklärt vielleicht einiges zum verdächtigen Schweigen der Bau- und Planerbranche während der Covid-Krise. Es droht keine wirkliche Gefahr. Die Politmarionetten lassen (oft auch sinnvollerweise) weiterhin Milliarden in Wohnbauförderung und Infrastruktur fließen, jetzt vielleicht sogar ein wenig mehr. Die Staatsverschuldung darf mit EU-Sanktus steigen, dank der angekündigten zeitlich befristeten Eurobonds wird es erstmals sogar „eigenes“ EU-Geld für Krisenbranchen geben, für das alle Mitglieder gemeinsam bürgen. Der Immo-Planer-Developer-Politkomplex ist eine bombensichere Bastion gegen jegliche Reformanfechtung.

Soweit das beunruhigend „beruhigende“ Kurzfrist-Szenario der europäischen Lebensrealität. Ein paar Jahre wird es schon noch klappen, und dann soll sich die nächste Generation um die Probleme kümmern. Doch was ist „kurzfristig“? Was heißt heutzutage schon „langfristig“ oder gar „berechenbar“? Eine der wichtigsten Lehren aus der Corona-Krise ist die Erkenntnis der Fragilität unseres Systems, das schon von einer vergleichsweise milden Pandemie (kein Vergleich zur mittelalterlichen Pest oder zur Spanischen Grippe von 1918) in seinen Grundfesten erschüttert wird. Resilienz sieht anders aus (dazu wird übrigens unser Sommerheft einige spannende Beiträge liefern). Ganz ohne Panikmache: Andere, viel ärgere Epidemien könnten jederzeit ausbrechen, der Klimawandel könnte einen gefährlichen oder irreversiblen Punkt erreichen und Migrationsströme unbekannten Ausmaßes könnten jederzeit über das exponierte Europa hereinbrechen. Andererseits: Gerade die Umweltgestaltung ist eines der wichtigsten Tools, das uns hier widerstandsfähig machen kann. Wir könnten Häuser und Städte bauen, die dank multifunktionaler Struktur perfektes „Containment“ ermöglichen. Wir könnten Häuser und Städte bauen, die dank Solarenergie und dem Lernen von heißen Ländern auch höhere als die gewohnten Temperaturen erträglich machen. Und wir könnten sogar – das hören viele nicht gerne – auch bauliche Lenkungsmaßnahmen irregulärer Migration sowie Hilfe vor Ort organisieren (die paar Container, die von der österreichischen Regierung jüngst auf griechische Inseln geschickt wurden, werden dafür allerdings nicht ausreichen).

München als grüne Stadt (c) Sean Yang, Wiki Commons

München als grüne Stadt (c) Sean Yang, Wiki Commons

Machbarer Strukturwandel

Soweit das „Langfristszenario“, das in Wahrheit bereits unmittelbar vor der Tür steht oder sogar schon in der Tür. Daher sollten wir schon heute unter genau diesen Bedingungen resiliente Umweltgestaltung betreiben und dabei viele großartige wirtschaftliche, technische, ästhetische (ja, Schönheit ist auch ein Lebensmittel) und soziale Innovationen implementieren. Geht es auch konkreter? Ja, es geht. Der erforderliche Strukturwandel in Richtung multifunktionaler, abtrennbarer, autonomer, umweltfreundlicher und beliebig vervielfältigbarer Räume ist technisch schon mit den heutigen Technologien ohne weiteres machbar. Beispielsweise hindert uns nichts daran, in den Wohnbau-Förderrichtlinien vorzugeben, dass die Wohneinheiten – trotz Trend zum Single-Haushalt, darüber unten mehr – wieder größer und von mehr Personen auf vielfältigere Weise nutzbar gemacht werden. Nichts hindert uns daran, verödete ländliche Ortskerne wiederzubeleben und ihr Wohnraumpotential und ihre Naturnähe für ehemalige Städter zu nutzen, die auch im Home Office arbeiten können (es gibt wohl mehr davon, als man erwarten würde). Nichts hindert uns daran, mit besseren Öffis und CO2-neutralen individuellen Antriebsformen viel mehr umweltverträgliche Mobilität herzustellen (in der Covid-Krise war man absurderweise im eigenen Auto mit Verbrennungsmotor besser aufgehoben als in Bus & Zug). Und nichts hindert uns daran, die Bodenversieglung durch aufgeständerte Gebäude zu reduzieren, die unter sich naturnahe Flächen „durchfließen“ lassen (eine alte Vision der klassischen Avantgarde von Friedrich Kiesler bis Yona Friedman, jüngst auch in einem interessante Hexagon-Urbanismus-Vorschlag von Johannes Zittmayer namens „Spiralik Architektures – Die Stadt der Zukunft“).

Yona Friedman, Ville Spatiale, 1963, Courtesy Yona Friedman, Pressebild Kiesler Foundation

Yona Friedman, Ville Spatiale, 1963, Courtesy Yona Friedman, Pressebild Kiesler Foundation

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Aber warum passiert all das so zögerlich? Ernüchternde Antwort: Weil der Leidensdruck noch nicht groß genug ist. Weil es uns zu gut geht. Weil wir zu egoistisch sind. Weil wir – siehe oben – in Single-Haushalten wohnen, da wir nicht auf die Bedürfnisse von Mitbewohnern eingehen wollen oder können. Weil die höchst menschliche Bequemlichkeit es zu anstrengend erscheinen lässt, neue Tools zu erlernen und zu nutzen. Weil der Mensch ein widersprüchliches Wesen ist: Einerseits ein bekannt soziales, andererseits aber auch ein Gewohnheitstier, das nur ungern seine Eigenheiten ändert, selbst wenn sie schädlich für ihn sind. Oder, noch allgemeiner gefasst: Weil der Mensch durch die Evolution der technischen Intelligenz sich selbst überlistet hat, indem die anderen lebensnotwendigen Eigenschaften der Spezies (Gemeinschaftssinn, physische, mentale und emotionale Angepasstheit an die Umwelt) in ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit weit hinter jener der (mittlerweile bereits künstlichen) Intelligenz zurückbleiben. Sehr weit. Gefährlich weit.

Spannend wird sein, welche Antworten die Planerbranche im Mai 2021 auf der nunmehr um ein Jahr verschobenen Architekturbiennale in Venedig präsentieren wird. Ob sie von ihrer Selbstbezüglichkeit endlich in eine neue Verantwortlichkeit kommt. Ob es viele sofort baubare Konzepte oder wieder nur nur theoretische Erörterungen und autistischen digitalen Ästhetizismus geben wird. Das vergangenes Jahr von Biennaledirektor Hashim Sarkis ersonnene Thema „Wie werden wir zusammenleben?“ hat eine unerwartete Brisanz gewonnen. Die Branche hat nun ein Jahr mehr Zeit erhalten, sich darauf ordentlich vorzubereiten und die Architektur mit dieser Veranstaltung endlich aus ihrem gesellschaftlichen Nischendasein als bloßer Design-Consultant herauszuführen. Interessant in diesem Zusammenhang: Kein Fachmedium für Architektur, sondern die italienische Lifestyle-Zeitschrift „Elle“ hat gemeinsam mit Sarkis eines der zentralen Themen in diesem Zusammenhang klar adressiert und zitiert ihn: „Das Leben im Grünen ist eine Alternative, aber es kommt nicht auf das Wo an, sondern auf das Wie in seiner prädiktiven Bedeutung: innerhalb von Mauern, ob häuslich oder öffentlich.“

Green_City (c) Alyson Hurt, Wiki Commons

Green_City (c) Alyson Hurt, Wiki Commons

Und weist gemeinsam mit ihm auf Fragen hin, „die die Quarantäne ans Licht gebracht hat. Eine davon bezieht sich auf die Beziehung zwischen Einsamkeit und Sozialität: Heute, zwischen Maßnahmen, Risiken und Mindestabständen, müssen wir uns die Frage nach dem Wert des kollektiven Lebens stellen. ‚Ich möchte an einen zentralen Text in der Geschichte der Soziologie erinnern, Comment Vivre Ensemble von Roland Barthes, der sich mit dem Thema der Isolation als Schutzmodell befasst. Obwohl ich die lyrische Schilderung der Formen des Mönchtums durch den französischen Soziologen als relevant für die durch die Pandemie verhängte Abriegelung betrachte, glaube ich nicht, dass sie in einer sehr offenen und porösen Gesellschaft wie der unsrigen als eine mögliche oder sogar wünschenswerte Form der Aggregation betrachtet werden kann. Es besteht kein Zweifel, dass wichtige Lehren gezogen werden können. Aber die Biennale erzählt von der Art und Weise, wie die Architektur Formen der kollektiven Organisation fördert, Gerechtigkeit und Zivilisation inspiriert und es verschiedenen Arten von Gemeinschaften ermöglicht, sich zu vermischen und zu integrieren‘.“ – Wir sind gespannt.

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