Drei Pavillons im Dialog

Seit über 40 Jahren dient die Architekturbiennale in Venedig als Bühne kultureller Selbstvergewisserung – hier zeigt sich, wie Architektur ihre politischen und gesellschaftlichen Dimensionen zur Debatte stellt. 2025 kuratiert Carlo Ratti die 19. Ausgabe unter dem Titel „Intelligens“. Wir richten den Blick auf Österreich, Deutschland und die Schweiz und fragen: Welche Haltungen offenbaren ihre Pavillons?
Statt einer bloßen Nebeneinanderstellung treten die drei Pavillons in einer triangulären Kritik in Austausch. Jeder Pavillon erhält zunächst eine Stellungnahme einer Autor:in, die anschließend von den Kurator:innen der anderen beiden Länder gespiegelt und kommentiert wird. So entsteht ein Dialog, der Unterschiede markiert, Überschneidungen sichtbar macht und institutionelle wie politische Kontexte reflektiert. Die trianguläre Kritik versteht sich dabei als experimentelles Format und erweitert den Blick von der Einzelkritik hin zu einem länderübergreifenden Diskursraum.
ÖSTERREICH „AGENCY FOR BETTER LIVING“
Kurator:innen: Curators Sabine Pollak, Michael Obrist, Lorenzo Romito | Text: Robert Temel
Unter dem Titel „Agency for Better Living“ thematisieren Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito zwei gegensätzliche Wohnbauwelten: Einerseits das ausgefeilte Top-down-Modell der Stadt Wien. Und andererseits die ebenso beispielhafte Bottomup- Wohnraumschaffung durch Besetzungen in Rom. Nicht nur das römische Wohnen im Widerstand ist radikal, in Wien konstatieren die Kurator:innen eine weitgehend unbekannte „unsichtbare Radikalität“ administrativer Prozesse. Beide Städte haben eine lange Geschichte der Kämpfe ums Wohnen und reagierten sehr unterschiedlich darauf. Heute entstehen in Rom außergewöhnliche Wohnmodelle in besetzten Bürohäusern und Fabriken, meist ohne Aussicht auf Legalisierung. „Europäische Städte wie Mailand verschwinden heute als Möglichkeitsraum für die dort Aufwachsenden“, meint Michael Obrist. Dem gegenüber bietet das Wiener Wohnbaumodell hochwertigen, leistbaren, zugänglichen Wohnraum für viele. Aber auch hier ist nicht alles perfekt. Die Ausstellung zeigt die wichtige Rolle von Pionier:innen in Wien, deren Beiträge in offizielle Programme integriert wurden, während zuletzt die Experimentierfreudigkeit abgenommen hat – der Bedarf wäre groß. Was heute wichtig ist und in beiden Städten auf unterschiedliche Art erprobt wird, ist der Stadtteil, wie Sabine Pollak sagt: „Es geht im Wohnbau auch darum, Quartiere gemeinsam zu entwickeln und dabei auch andere Nutzungen zu integrieren.“ Begleitend zur Ausstellung laufen bis November Assemblies zu Wohnbauthemen, am Ende soll ein Manifest mit konkreten Vorschlägen entstehen.

Einer der beiden Bereiche zeigt das ausgefeilte Top-down-Modell der Stadtentwicklung in Wien. Fotos: Hertha Hurnaus
Antwort kuratorisches Team Schweiz Der österreichische Pavillon folgt einem klassischen Biennale-Format der thematischen Dokumentation. Wohnen wird sowohl als unsichtbarer Prozess als auch als sichtbarer Widerstand dargestellt. Architektur fungiert als Beweis und Zeugnis, eingerahmt durch dialogische Vergleiche von Fallstudien. Die Besucher: innen begegnen Kontrasten: Top-down versus Bottom-up. Der Schweizer Pavillon hingegen stellt das Zusammenkommen und Zuhören in den Vordergrund und betont die Erfahrbarkeit. Architektur vermittelt soziale Beziehungen innerhalb des Pavillons selbst und fungiert als Resonanzraum, in dem Besucher:innen in die Spuren der Vergangenheit eintreten. Das Engagement ist relational und sensorisch und verwandelt überlieferte Muster der Sozialität in gelebte Erfahrung. Österreich inszeniert einen dialektischen Rahmen; die Schweiz schlägt einen immersiven, reflektierenden Raum vor, in dem aufmerksames Zuhören die Lücken zwischen Archiv und Gegenwart überbrückt und die projektive Vorstellungskraft fördert.
Antwort kuratorisches Team Deutschland Der Beitrag „Agency for Better Living“ stellt die Frage nach hochwertigem, leistbarem und zugänglichem Wohnraum in den Städten Rom und Wien. Ihre unterschiedlichen Zugänge zum Thema Wohnen werden exemplarisch gegenübergestellt. Beide Metropolen sehen sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber und verfolgen doch unterschiedliche Strategien im Umgang mit öffentlichem und privatem Raum. Der Pavillon greift diese Gegenüberstellung in einer konzeptuellen und visuellen Symmetrie auf. Auch der deutsche Beitrag nutzt die architektonische Symmetrie des Pavillons: Ein „Stress“-Raum macht die Belastung urbaner Räume unter Hitzedruck erfahrbar, während der baugleiche symmetrische „De-Stress“-Raum konkrete Klimaanpassungsmaßnahmen aufzeigt. So werden die Unterschiede in der thermischen Qualität umso klarer erfahrbar. Beide Beiträge reflektieren zentrale Fragen unserer Gegenwart und laden dazu ein, kollektiv zu denken und zu agieren.
DEUTSCHLAND „STRESSTEST“
Kurator:innen: Nicola Borgmann, Elisabeth Endres, Gabriele G. Kiefer und Daniele Santucci | Text: Laura Margarete Bertelt
Mit „Stresstest“ inszeniert der deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale 2025 die Überforderung unserer Städte durch den Klimawandel in emotional aufgeladener und ganz bewusst zugespitzter Form. Dunkle Räume, Hitzeplatten, Hainbuchen im Gegenlicht: Das Team um Nicola Borgmann, Elisabeth Endres, Gabriele G. Kiefer und Daniele Santucci will nicht primär informieren, sondern körperlich erfahrbar machen, was passiert, wenn wir die Klimaanpassung weiter verschleppen. „Es ging für uns darum, das erlebbar und fühlbar zu machen: als Hebel, um Aufmerksamkeit zu gewinnen“, erklärt Santucci. Dass sich der Beitrag explizit an ein fachfremdes Publikum richtet, markiert einen Bruch mit dem biennaleüblichen Fachformat und setzt auf Empowerment für Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit. „Wir kennen die Lösungen“, so Santucci. „Aber sie kommen nicht in der Umsetzung an, weil Relevanz fehlt oder weil auf kommunaler Ebene administrative Hürden bestehen.“
Die Ausstellung verzichtet dabei bewusst auf Best Practices. Statt einzelne Planer:innen oder Projekte in den Vordergrund zu rücken, zeigt die zentrale Videoinstallation ein Mosaik aus über 200 realisierten Maßnahmen. „Wir wollten nicht die Guten und die Bösen zeigen“, betont Santucci. „Es geht um Lösungen – und um ihre Anpassbarkeit an den lokalen Kontext.“ So verschiebt der Pavillon die Repräsentationsfrage: Nicht nationale Selbstvergewisserung steht im Fokus, sondern ein kollektiver Appell an Handlungsmacht. Ein Beitrag, der mit sinnlicher Wucht operiert und den Begriff politischer Repräsentation im architektonischen Kontext neu verhandelt.

Der deutsche Pavillon zeigt mit „Stress“ und „De-Stress“ Klimastrategien und stellt ihre Umsetzung infrage. Foto: Patricia Parinejad Destress
Antwort kuratorisches Team Österreich Die Wohnungskrise ist direkt verknüpft mit der Klimakrise. Hitzewellen, Überschwemmungen, Wassermangel und Stürme sind globale Auswirkungen der Klimaveränderung und betreffen alle Städte. In Wien pflanzt man neue, hitzeresistente Bäume, währenddessen stürzen in Rom erste Pinien um. Tourist:innen ist dies meist egal, das urbane Alltagsleben wird jedoch zunehmend schwieriger, vor allem für jene, die wenig Mittel zur Verfügung haben. Unter den Folgen des Klimawandels leiden große Familien in zu kleinen Wohnungen, Alleinlebende, Alte, Arbeitsmigrant:innen und Geflüchtete. Die Aufgabe, Wien, Rom, Berlin oder irgendeine Großstadt gegen Hitze umzubauen und Lebensformen zu finden, die unsichere Zukünfte aushalten lassen, ist gigantisch und muss kollektiv erfolgen. Die fünf in der Diskussionsplattform stehenden Bäume, die „Klimagewinner“ im Hof der AGENCY FOR BETTER LIVING, verweisen auf eine kollektive Zukunft, neue Arten und neue Verhaltensweisen.
Antwort kuratorisches Team Schweiz Der deutsche Pavillon inszeniert den Klimawandel als sinnliches Drama – Hitze, Dunkelheit, Orientierungslosigkeit. Obwohl künstlich, erinnert die Umgebung an reale Bedingungen. Der Schock vermittelt Dringlichkeit und regt zum Nachdenken an. Das Eintauchen folgt einer theatralischen Konvention, die Bühne und Publikum voneinander trennt; die Zuschauer:innen akzeptiert die inszenierte Illusion als Mittel, um die Realität zu begreifen. Der Schweizer Pavillon folgt einer anderen Konvention. Die Besucher:inen bewegen sich durch einen Raum, der von Geschichte, Ausgrenzung und der Dynamik der Kulturindustrie geprägt ist. Zuhören wird zu einem Mittel der Vermittlung, das ökologische Aufmerksamkeit fördert; eine Klanginstallation verbindet Umgebungsgeräusche mit Präsenz und erhält so ein Kontinuum aufrecht. Während der deutsche Beitrag über den inszenierten Zusammenbruch Reaktionen provoziert, legt der Schweizer Pavillon den Schwerpunkt auf Beziehung. Er macht die Darstellung selbst zur eigentlichen Bühne der Biennale und lädt das Publikum zu einem mitverantwortlichen Engagement ein.
SCHWEIZ „ENDGÜLTIGE FORM WIRD VON DER ARCHITEKTIN AM BAU BESTIMMT.“
Kuratorinnen: Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Axelle Stiefel, Myriam Uzor | Text: Laura Frediani
Der Schweizer Pavillon bildet durch den Einsatz konkreter Architektur einen überraschenden Kontrapunkt zum vorwiegend didaktisch aufbereiteten Ausstellungsdiskurs der Biennale. Ausgangspunkt des Ausstellungskonzepts der Gruppe Annexe (Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins und Myriam Uzor) gemeinsam mit der Künstlerin Axelle Stiefel ist die Überlagerung des bestehenden Schweizer Pavillons von Bruno Giacometti mit der ebenso in der 1950er-Jahren erbauten Kunsthalle in Zürich von Lisbeth Sachs. Durch die Superposition entsteht eine vielschichtige Strategie, die Zwischenräume zum Reflektieren schafft. Es wird sichtbar, was die Biennale übersieht: Kein einziger Pavillon in den Giardini wurde bislang von einer Frau errichtet. Die diesjährige Schweizer Ausstellung erzählt von Material und Haltung: eine Architektur des Zuhörens, des gegenseitigen Tragens, ein Weiterbauen im Gespräch. Das multidisziplinäre Arbeiten – mit dem Sound Artist Octave Magescas, der Grafikerin Emma Kouassi, dem GTA Archiv, der kollaborativen Plattform Rebiennale aber auch mit der Schweizer Industrie –, das Vertrauen in den Prozess und die kollektiven Entscheidungen werden räumlich spürbar gemacht. Annexe zeigt Architektur als gebauten, politischen und sozialen (Arbeits-)Prozess. Ihr feministisch kollaborativer Ansatz würdigt Sachs nicht retrospektiv, sondern lässt ihr Denken in der Gegenwart und Zukunft räumlich nachklingen. Was bleibt, ist eine gebaute Referenz, das Vorhaben, die Materialien weiterzuverwenden, aber allem voran der Aufruf, in die Architektur zu vertrauen.

Der Schweizer Beitrag bringt zwei unterschiedliche Organisationsformen zusammen und hinterfragt dabei seine räumlichen und konzeptuellen Grenzen. Fotos: Keystone-SDA / Ga.tan Bally
Antwort kuratorisches Team Österreich Die Unterscheidung in konkrete Architektur und didaktische Ausstellung ist schwierig. Im österreichischen Pavillon sind die räumlichen Eingriffe (konkrete Architektur?) minimal, aber helfen dem (didaktischen?) Konzept. Zwei neue Wände im Durchgang verstärken die Symmetrie des Baus von Josef Hoffmann und dienen der Spiegelung Wien–Rom. Im Hof wird ein kleiner Pool, von Josef Hoffmann in den 1950er-Jahren geplant und bald darauf wieder verschwunden, in eine Diskussionsplattform re-interpretiert. Insofern fühlen wir uns Annexe und ihrer Re-Interpretation einer Architektur von Lisbeth Sachs verbunden. Unsere Forderung nach einem BETTER LIVING für alle bedeutet: Guter, leistbarer Wohnraum soll von allen gleichermaßen entwickelt, benutzt und bewohnt werden können, unabhängig von Geschlecht, Alter, Ethnie und Bildung. „Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt“ ist die räumliche Gefährtin des Hoffmann- Pavillons, die Schwester der AGENCY und eine Verbündete im Kampf um BETTER LIVING.
Antwort kuratorisches Team Deutschland Der Schweizer Beitrag setzt ein starkes Zeichen: „Die endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt“: ein Statement, das den offenen, prozessorientierten Charakter von Architektur betont. Gestaltung geschieht nicht abstrakt am Reißbrett, sondern entwickelt sich im direkten Dialog mit Raum, Material und den Menschen vor Ort. Im Zentrum steht die räumliche Erfahrung: Besucher:innen bewegen sich durch neu geschaffene Räume. Dieses Erleben ist nicht nur visuell, sondern zutiefst sensorisch und relational. Der Pavillon fordert zur aktiven Auseinandersetzung heraus. Auch „Stresstest“ fordert heraus statt zu erklären. Das körperlich-sinnliche Erfahren ersetzt das Didaktische und wird so zum Mittel, um ein tieferes Verständnis für Raum, Gemeinschaft und die transformierende Kraft von Architektur zu ermöglichen.
