Interview von Selina Wach

Im Gespräch mit Julia Paass: Netzwerk Zukunftsorte

Medien und Popkultur zeichnen oft ein düsteres Bild von Ländlichen Regionen – geprägt von Provinzialität, Perspektivlosigkeit und rechter Dominanz. Doch wie viel Wahrheit steckt darin? Und welche Zukunftsperspektiven gibt es für den ländlichen Raum? Julia Paaß ist Gründerin des Netzwerk Zukunftsorte und engagierte Expertin für die Wiederbelebung von Leerstand, die Förderung demokratischer Teilhabe und die Entwicklung nachhaltiger Perspektiven für ländliche Räume. Ihr Ziel ist es, Leerstände in lebendige Gemeinschaftsorte zu verwandeln, die Wohnen, Arbeiten und Zusammenleben miteinander verbinden. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Hof Prädikow in Brandenburg, ein genossenschaftliches Wohn- und Arbeitsprojekt, das sie maßgeblich mitentwickelt hat.


WIE VIEL WAHRHEIT STECKT IM EBEN BESCHRIEBENEN BILD VON LÄNDLICHEN REGIONEN UND WELCHE NARRATIVE FEHLEN DEINER MEINUNG NACH IN DER ÖFFENTLICHEN WAHRNEHMUNG?

[Julia Paass]: Das mediale Bild ländlicher Regionen ist sehr einseitig. Lange hieß es, auf dem Land passiere nichts – und es brauche die Städter:innen, die dorthin kommen und neue Dinge auf die Beine stellen. Dieses Narrativ trägt meiner Meinung nach dazu bei, dass rechte Parteien gewählt werden, weil viele sich unverstanden und nicht repräsentiert fühlen. Dabei organisieren die Menschen hier seit jeher vieles selbst. In der Stadt gibt es ein riesiges Angebot an Gastronomie, Kultur und Veranstaltungen – auf dem Land ist das viel kleiner oder fehlt ganz. Dennoch entstehen hier Begegnungen und Initiativen, sei es in der Feuerwehr, im Landfrauenverein oder in Kulturvereinen. Diese Strukturen sind anders als das, was bestimmte urbane Milieus schätzen, aber sie existieren und verdienen Anerkennung. Auch wenn Personen aus der Nachbarschaft AfD wählen, sind das meiner Erfahrung nach keine schlechten Menschen. Oft fehlt ihnen schlicht das Bewusstsein für die Konsequenzen einer rechten Regierung, und das Gefühl, von bisherigen Regierungen nicht beachtet und respektiert zu werden, ist groß. Dazu kommen die zum Teil tiefen Wunden der Wendepolitik, die bis heute nicht wirklich aufgearbeitet sind. Gleichzeitig gibt es auf dem Land etwas, wonach sich viele Städter:innen sehnen: Natur, Verbundenheit und Raum. Und das wird hier auch sehr geschätzt.

Hof Prädikow in Brandenburg, einer der größten erhaltenen Vierseithöfe, wurde 2024 revitalisiert und vereint nun Wohnen, Arbeiten und Kultur. © Peter Ulrich

IHR SEID IN BRANDENBURG GESTARTET. DIE REGION ERLEBT IN DEN LETZTEN JAHREN EINE TRENDWENDE: 2023 SIND FAST 17.000 MENSCHEN VON BERLIN AUFS LAND GEZOGEN. WELCHE WOHN- UND LEBENSFORMEN SIND BESONDERS GEFRAGT, UND WIE UNTERSCHEIDEN SIE SICH VON TRADITIONELLEN LÄNDLICHEN STRUKTUREN UND DEM LEBEN IN DER STADT?

[Julia Paass]: Das Einfamilienhaus ist nach wie vor der Spitzenreiter – das eigene Häuschen mit Garten bleibt für viele der Traum. Gleichzeitig gibt es eine Entwicklung hin zu alternativen Wohnformen. Manche wollen aufs Land ziehen, aber keinen klassischen bürgerlichen Lebensstil. Sie suchen stattdessen mehr Gemeinschaft, sei es in einer Baugemeinschaft mit lockerem sozialem Engagement oder in verbindlichen Gemeinschaftsstrukturen. Gerade ältere Menschen und junge Familien überlegen, ob sie in der Stadt bleiben oder lieber in einer gemeinschaftlichen Wohnform mit mehr Natur leben möchten. Doch auf dem Land gibt es bisher wenig Angebot für solche generationenübergreifenden Konzepte. Hier liegt Potenzial – etwa in leerstehenden Gebäuden wie alten Plattenbauten, ehemaligen landwirtschaftlichen Gebäuden, Schulen oder Bahnhöfen. Angesichts der klimapolitischen Notwendigkeit, mehr Bestand zu nutzen, ist es sinnvoll, diese Gebäude so weiterzuentwickeln, dass sie attraktive Wohnformen ermöglichen – und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt stärken.

DAS NETZWERK ZUKUNFTSORTE SETZT SICH FÜR NEUE IMPULSE IN LÄNDLICHEN RÄUMEN EIN, INDEM ES ALTERNATIVE WOHN- UND ARBEITSFORMEN FÖRDERT. WELCHE KONKRETEN ANSÄTZE VERFOLGT DAS NETZWERK, UND WIE GESTALTET SICH SEINE ARBEIT IN DER PRAXIS?

[Julia Paass]: Zunächst muss man verstehen: Was ist ein Zukunftsort? Es handelt sich um reaktivierte Bestandsgebäude oder Brachflächen, die durch ihre Nutzung eine positive Wirkung auf ihr Umfeld haben. Sie dienen nicht nur als Wohnraum oder Seminarhaus, sondern fördern auch Begegnung, Kultur und nachhaltige Entwicklung. Zukunftsorte mit sozialem Fokus schaffen Begegnungsräume – etwa durch Gastronomie, Gemeinschaftsbüros, Veranstaltungen oder Kulturangebote. Andere Projekte konzentrieren sich auf ökologische Landwirtschaft, Regionalentwicklung oder Bildung. Gemein ist allen, dass sie Wohnen und Arbeiten verbinden und gemeinwohlorientiertes Wirtschaften ermöglichen. Das Netzwerk Zukunftsorte haben wir 2018 mit dem Ziel gegründet, bestehende Projekte sichtbar zu machen und alternative Regionalentwicklungsansätze jenseits der Ansiedlung von großen Konzernen zu fördern. Heute zeichnen wir Zukunftsorte aus, bieten eine Plattform für den Wissensaustausch und entwickeln eine Lern- und Beratungsplattform für den DACH-Raum, um Macher: innen von Zukunftsorten gezielt zu unterstützen. Gleichzeitig setzen wir uns politisch für bessere Rahmenbedingungen ein...


Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 4-5/2025. Der Volltext ist ab Seite 104 zu finden.

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