Im Gespräch mit Muck Petzet

Muck Petzet ist Architekt, Kurator und Professor für Sustainable Design an der Accademia di architettura in Mendrisio – und eine wichtige Stimme der Vernunft für die Baubranche. Vor mittlerweile über einem Jahrzehnt hat er auf der Biennale den Deutschen Pavillon kuratiert, mit dem Motto „Reduce, Reuse, Recycle“ der Baubranche einen entscheidenden Anstoß zum Umdenken gegeben und eine wichtige Vorreiterrolle übernommen. Wir sitzen zusammen in Venedig, um über dieses noch immer brandaktuelle Thema zu sprechen.
WELCHE BRAUBRANCHE HAST DU VOR 13 JAHREN VORGEFUNDEN? WAS HAT SICH MITTLERWEILE VERÄNDERT? WO MÜSSEN WIR NOCHMAL ANSETZEN?
[MUCK PETZET]: 2012 war auch schon klar, wie wichtig das Thema Umbau ist – nur das Bewusstsein dafür war noch nicht so in der breiten Öffentlichkeit verankert. 2012 war es unmöglich, Sponsoren aus der Bauindustrie zu finden. Das wäre heute anders. Der damalige Bauminister hat bei der Pressekonferenz gewitzelt: „Wer blöd ist und zu viel Geld hat, der baut um.“ Das würde heute niemand mehr sagen. Trotzdem gibt es nach wie vor viel zu viele sinnlose Abbrüche. Unser Ziel war, eine klare Wertehierarchie im Umgang mit Architektur zu etablieren – wie sie in der Abfallwirtschaft seit langem existiert: Vermeidung ist die beste Option, Weiternutzung die zweitbeste und Recycling schon im roten Bereich. Wir haben gezeigt, was Recycling beim Bauen meistens bedeutet: zu Schotter zerkleinerte Betonteile. Das ist nach wie vor gängige Praxis. Heute reden wir stolz von zirkulärem Bauen. Damit bewegen wir uns nach wie vor auf der Ebene des Bauteile-Recyclings. Adaptive Weiternutzung und Vermeidung wären die besseren Strategien.
MIT DEINEM BÜRO VERTRITTST DU DIE HALTUNG „MOST WITH LEAST“, ALSO DIE PHILOSOPHIE DES KLEINSTMÖGLICHEN EINGRIFFES NACH LUCIUS BURCKHARD. WIE LÄSST SICH AUS DIESER PRAXIS, DIE OFT MIT VERZICHT UND ZURÜCKHALTUNG ASSOZIIERT WIRD, EINE EIGENE ÄSTHETIK ENTWICKELN? EINE FORMSPRACHE, DIE NICHT NUR FUNKTIONAL IST, SONDERN ATMOSPHÄRE SCHAFFT, SCHÖN IST – UND ÜBERZEUGT, OHNE STÄNDIG AN DIE KRISE ERINNERN ZU MÜSSEN? KURZ GESAGT: KANN EINE ARCHITEKTUR, DIE AUS DER NOTWENDIGKEIT DES WENIGER KOMMT, SO STARK SEIN, DASS SICH VERZICHT WIE LUXUS ANFÜHLT?
[MUCK PETZET]: Es ist ein großes Problem, dass Nachhaltigkeit nicht mit einer verführerischen Ästhetik identifiziert wird, sondern im Gegenteil mit Verzicht oder sogar Hässlichkeit. Nachhaltigkeit muss wehtun, irgendwie gebastelt und non corporate. Diese Assoziationen gibt es auch bei Architektur: Wenn man nach Bildern nachhaltiger Architektur sucht, bekommt man jede Menge grüne Häuser mit Pflanzenfassaden, viel Holz vor den Hütten und viel Haustechnik. Mein zentrales Thema „Vermeidung“ des Unnötigen ist dabei ein besonders hartes Brot und braucht sehr viel Überzeugungsarbeit: Bei einem Umbau ist die Motivation des Bauherrn meistens ganz explizit eben Veränderung. Wenn man die nicht liefern will, muss man die Qualitäten des Bestands erkennen, aufzeigen und auch vermitteln. Das ist eine ganz andere Aufgabe als das Entwerfen, das wir gelernt haben. Wir haben im Umgang mit dem Bestand eine radikal zurückhaltende Herangehensweise und Haltung – andere Kolleg:innen kontrastieren eher und entwickeln eine Ästhetik des Patchworks, der Collage. Auch das kann gut funktionieren. Am Ende geht es bei jedem Projekt darum die richtige Strategie zu finden. Bei unserem Projekt für die Wohngemeinschaftshäuser in Berlin-Schlachtensee haben wir um den Erhalt jedes einzelnen Bauteils gekämpft und den Anteil des Neuen immer weiter reduziert – so weit, dass uns fast der Auftrag entzogen wurde. Da hieß es: Dafür braucht man doch keinen Architekten, das ist doch nur noch eine „Pinselsanierung“. Ich habe entgegnet: ja, das ist eine Pinselsanierung – aber die muss eben richtig und gut gemacht sein, um die Häuser auf ein zukunftsfähiges Niveau zu heben – ohne sie allzu viel physisch zu ändern. Es geht hier letztlich sehr stark auch um eine immaterielle Wahrnehmungsverschiebung. Dazu reicht manchmal der Pinsel oder sogar nur eine gründliche Reinigung. Inzwischen werden die Häuser sehr positiv wahrgenommen – vom Bauherrn und auch insgesamt. Sie haben eine komplett andere Wirkung und auch Nutzbarkeit, obwohl wir nur sehr punktuell wirklich eingegriffen haben. Es bleibt eine Herausforderung so einen minimalinvasiven Ansatz nicht als Verzicht, sondern als ästhetische Möglichkeit zu verstehen. Ich habe nur einen kurzen Blick auf die aktuelle Biennale werfen können – aber es fällt auf, dass man sich sehr schwer tut, überhaupt so etwas wie Architektur zu zeigen. Die Biennale ist eher so etwas wie eine Technik-Ausstellung geworden. Das ist schade, gute Projekte sind notwendig, um zu zeigen, wo es hingehen sollte.
DU HAST GERADE SCHON DEIN PROJEKT ANGESPROCHEN, ABER WELCHE VON DEINEN EIGENEN PROJEKTEN ODER AUCH DIE VON KOLLEG:INNEN GIBT ES, BEI DENEN DU SAGEN WÜRDEST, HIER GELINGT EBEN DIESE ARCHITEKTUR? DIE HALTUNG ZEIGT, OHNE SICH DABEI GESTALTERISCH ZURÜCKZUNEHMEN?
[MUCK PETZET]: Es gibt viele brilliante Beispiele – wie wir sie ja auch in unserem Biennalebeitrag gezeigt haben: die Antivilla von Arno Brandlhuber z.B. die den Umbauprozess ganz direkt fast plakativ ausdrückt und eine Ästhetik der Hässlichkeit und des Unfertigen zelebriert. Oder PC Caritas von de Vylder Vinck Taillieu – ein Projekt daß den Verfall der Architektur in Kauf nimmt oder sogar beschleunigt. Gerade in Belgien gibt es eine ganze Reihe herausragender Beispiele und Büros, die hier sehr individuelle und interessante Wege gefunden haben aus dem Umgang mit Bestand eigene Ästhetiken und Typologien zu entwickeln. Belgien ist auch ein Vorreiterland was das gesetzliche Einschränken von Abbruch und Förderung des Umbaus betrifft. Da ist eine ganze Generation von Architekt:innen entstanden – wie AgwA, Bovenbow oder ATAMA, die sich mit Begeisterung und sehr viel Freiheit dem Bestand widmen. Das Spannende am Umgang mit Bestand ist ja, dass hier unerwartetes, unkonventionelles passieren kann – da das Programm die Funktionen und der Bestand eben gar nicht genau passen können. Aus diesen Diskrepanzen kann ein Mehrwert entstehen, unerklärliche Zwischenräume, Räume, die zu groß zu hoch oder zu eng sind. Wie z.B. beim Palais des Expositions de la Ville de Charleroi von AjdvivgwA - jan de vylder inge vinck - AgwA . Da stand ein viel zu großes Gebäude, die Nutzung hat sich geändert. In Deutschland hätte man das abgerissen, ohne einen architektonischen Gedanken daran zu verschwenden. AjdvivgwA haben diesen räumlichen Überfluss als „Material“ ihres Projektes genommen – manche Teile herausgenommen und andere ergänzt, Öffnungen geschaffen und Bauteile zu Außenräumen umdefiniert. Dabei ist ein unglaublich großzügiges Raumgebilde entstanden, dass man so nie neu „entworfen“ haben könnte. Da kommen auch eben verschiedene Zeit-Schichten und Erzählungen zusammen und verdichten sich. Da sieht man das ganze Potenzial des Bestands und es entsteht eben auch eine ganz eigene Ästhetik. Insofern bin ich da zuversichtlich.
DU BEGINNST VIELE PROJEKTE MIT DER GRUNDSÄTZLICHEN FRAGE: WIRD DIESES GEBÄUDE ÜBERHAUPT GEBRAUCHT? WAS WÜRDE PASSIEREN, WENN DIESE HALTUNG STANDARD WÜRDE? UND: WIE OFT LAUTET DIE EHRLICHE ANTWORT – EIGENTLICH NICHT?
[MUCK PETZET]: Die Frage ist: Wer gibt letztlich die Antwort? Denn die Anfrage kommt ja immer von jemandem, einem potenziellen Kunden. Wir hatten ein paar mal Anfragen für Einfamilienhäuser. Jemand hat ein Grundstück gekauft 0– und möchte ein schönes neues Haus darauf bauen. Und wir stellen dann fest, dass da schon etwas draufsteht, dass vielleicht sogar gar nicht so schlecht ist. Es fällt immer schwer zu einem potenziellen Auftrag nein zu sagen. Wir schlagen dann vor, eine Alternativstudie mit dem Bestand zu machen. Das hat zwar noch nie zu einem Auftrag geführt, aber es erzeugt zumindest einen Widerstand, und regt zum Nachdenken an. Wir würden nicht jeden Abbruch grundsätzlich ausschließen – aber es müssen schon gravierende Gründe dafür sprechen: etwa ein optimal erschlossenes innerstädtisches Grundstück, auf dem nur ein eingeschossiger Behelfsbau steht. Auf so einem wertvollen völlig unternutzten Grund kann ein Abbruch und Neubau sinnvoll sein – aber wir würden auch dass jedenfalls sehr kritisch hinterfragen. Wenn diese Haltung Standard sein würde, ließen sich viele sinnlose Maßnahmen vermeiden – und das wäre extrem wichtig. Gerade in der Schweiz ist der Ersatzneubau nach wie vor ein großes Thema. Oft aus finanziellen Mechanismen heraus: institutionelle Anleger, etwa Versicherungen, haben Liegenschaften abgeschrieben und wollen wieder investieren – das Geld muss schließlich angelegt werden. Dann werden vollkommen intakte Bauten aus den 70ern abgerissen, obwohl sie wunderbar funktionieren, gute Grundrisse haben, eine funktionierende soziale Gemeinschaft bilden und oft sogar in einem hervorragenden, gepflegten Zustand sind. Hier wird dann oft mit dem Argument agiert so entstünde mehr Wohnraum, aber meistens werden auch größere Wohnungen für weniger Menschen gebaut. Die ursprüngliche Bevölkerung wird verdrängt – und die Pro-Kopf-Wohnfläche wächst dramatisch. Seit den 70er Jahren frisst dieses Wachstum jeden Effizienzgewinn auf. Wir haben insgesamt keine wesentlichen Reduktionen im Energieverbrauch erreicht, obwohl wir dämmen, was das Zeug hält. Man müsste von Quadratmeter- auf Personenbetrachtung umstellen – dann würde vieles sofort als sinnlos sichtbar. Wenn man mit einem Riesenaufwand Effizienzgewinne erzielt bei einer Villa in der auf 300 m2 zwei Personen leben, dann sind dort Geld und Ressourcen falsch angelegt.
DU BEOBACHTEST UND UNTERRICHTEST SEIT VIELEN JAHREN: WIE EHRLICH IST DIE BRANCHE BEIM THEMA NACHHALTIGKEIT WIRKLICH? WO BEGINNT GREENWASHING – UND WELCHE BEGRIFFE MÜSSTEN WIR AUS DEM VOKABULAR VIELLEICHT SOGAR STREICHEN, WEIL SIE LÄNGST ZUR FLOSKEL GEWORDEN SIND?
[MUCK PETZET]: Nachhaltigkeit ist ein überstrapazierter Begriff, aber es hat bisher niemand einen besseren gefunden. Für mich bleibt er valide. Inzwischen hat die Greenwashing-Branche eher den Begriff „zirkuläres Bauen“ entdeckt. Man muss sich vergegenwärtigen, wie die Tabakindustrie seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder neue Strategien entwickelt hat, um weitermachen zu können wie bisher – obwohl wissenschaftlich lange klar war, dass Rauchen tödlich ist. Also erst leugnen bis es nicht mehr geht, dann die Wissenschaft fördern und Zweifel sähen, dann „bessere Produkte“ anbieten. Ganz ähnlich läuft es jetzt auch in der Bauindustrie. Das zirkuläre Bauen ist „besser“ als das „schlechte“ konventionelle Bauen – aber damit erreichen wir unsere Klimaziele nie. Man klopft sich auf die Schultern, weil im Beton jetzt 20 Prozent Recyclingzuschläge enthalten sind und weniger umweltschädlicher Klinker verbraucht wird. Dieses Recycling ist dabei massives Downcycling. Dann sprichst man gleich von „geschlossenen Kreisläufen“ und malt schöne Kreisdiagramme. Wirkliche Zirkularität kann in anderen Wirtschaftskreisläufen – für kurzlebige Güter – mit viel Aufwand funktionieren. Aber Gebäude sind nun mal ortsfeste und langlebige sogar intergenerational langlebige Produkte. Da wird viel schöngerechnet was keinen Sinn macht. Z.B. Gutschriften für die Recyclingfähigkeit von Bauteilen oder die CO2 Speicherung in Holzbaustoffen. Mir erschließt sich der Sinn heute üblicher „wissenschaftlicher“ Berechnungen nicht, in denen ich heute Gutschriften bekomme, weil ich Materialien verwende, die in der Zukunft vielleicht wieder aus- und woanders wieder eingebaut werden können. Diese Zukunft wird anders sein als wir sie uns vorstellen können – und in 20 Jahren ist angeblich die gesamte Wirtschaft klimaneutral. Also hätte ich das Holz auch im Wald das CO2 speichern lassen können. Da wird gerade ganz viel schön und in bestimmte Lobbyrichtungen gerechnet. Und das „zirkuläre Bauen“ ist die Menthol Zigarette der Bauindustrie. Man fühlt sich freier, und hat beim Rauchen ein besseres Gefühl – am Ende ist es auch tödlich. Regeneratives Bauen hingegen ist ein guter Begriff, weil er über den reinen Erhaltungsansatz der Nachhaltigkeit hinausgeht, und ein Verbesserungsversprechen enthält. Wir brauchen in einer Welt, in der vieles immer schlechter und bedrohlicher wird verbessernde Maßnahmen. Es reicht nicht, nur zu erhalten, wir müssen aktiv Dinge besser machen. Mit unseren Studierenden versuchen wir, Projekte zu entwickeln, die nicht nur für Menschen bessere Lebensbedingungen schaffen, sondern auch für Tiere, Pflanzen, das ganze ökologische Umfeld. Das sollte unser aller Ziel sein.
DU SETZT DICH FÜR DEN ERHALT DES BESTANDS EIN – AUCH DANN, WENN ES SICH UM UNGELIEBTE EPOCHEN HANDELT. WAS BEDEUTET WERTSCHÄTZUNG IN DER ARCHITEKTUR – GERADE GEGENÜBER GEBÄUDEN, DIE NICHT „SCHÖN“ IM KLASSISCHEN SINN SIND? KÖNNEN ALTER ODER GEBRAUCH SELBST EINEN ARCHITEKTONISCHEN WERT ERZEUGEN?
[MUCK PETZET]: Wir sind alle „fashion victims“: Le Corbusier hat in Vers une architecture die Pyramiden von Gizeh gezeigt, antike Tempel, Ozeandampfer und die neuesten Autos seiner Zeit. Wir empfinden diese Autos heute als altmodisch und damit als Stilbruch. Als ich in den 70er Jahren aufgewachsen bin, galt Jugendstil als grauenhaft und die Gebäude des 19. Jahrhunderts hat man bedenkenlos abgerissen – dieser Stil sei unehrlich, hieß es. Heute sieht man das alles ganz anders. Wir folgen also auch in solch folgenschweren Entscheidungen wie dem Abbruch eines Gebäudes in den Unmengen an grauem CO2 und an Ressourcen gebunden sind einfach nur unbewussten „Moden“ und Stimmungen. Ich bin überzeugt, dass eine wirklich ehrliche Statistik überwiegend Geschmacksgründe als Abbruchgrund führen würde. Es ist bezeichnend, dass überwiegend Gebäude der 60er und 70er Jahre abgebrochen werden, die ja eigentlich technisch besser sind, müssten als die alten. Da gibt es eine starke Identifikationsproblematik - gerade mit den Bauten mit denen wir großgeworden sind. Das Entscheidende für einen guten Umbau ist aber, dass man sich mit dem Gebäude wirklich identifiziert – als Architekt, idealerweise auch als Bauherr:in. Man muss da schon eine gewisse Liebe und Hingabe zum Bestand entwickeln, um so eine langwierige und sensible Aufgabe erfolgreich zu Ende zu bringen.
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