Modern Classics 12

Industrialisierung des Bauens - die Anfänge

Zerlegbares Bürogebäude von Christoph & Unmack, um 1920, Görlitz © Wiki Commons, Oberlausitzerin64

Geschichte wiederholt sich manchmal: Die Reaktion der Kunst und Architektur auf die erste Welle der Industrialisierung mit ihren rauchenden Schlöten, Entfremdung der Menschen von ihrer Arbeit und immer unwirtlicheren Städten war die Hinwendung zum Handwerk in der Arts-and-Crafts-Bewegung und den europäischen Werkbünden um 1900. Hundert Jahre später war es die globalisierte Industrie, die eine Renaissance von Handwerk und Regionalität als sinnstiftende Gegenreaktion auslöste. Die Industrien von damals und heute sind jedoch kaum vergleichbar: Durch Digitalisierung können wir heute umweltfreundlich und an individuelle Kundenwünsche angepasst produzieren, womit ein altes Problem elegant auf einer höheren evolutionären Ebene gelöst sein könnte. Wie sollten aber keinesfalls historische Fehler wiederholen. In einer Mini-Serie bringen wir deshalb in den kommenden Wochen einige Beiträge zur langen und wechselvollen Beziehungsgeschichte zwischen Industrie und moderner Architektur.


 

Die vollständige Industrialisierung des Bauens war ein zentrales Ideal der modernen Architektur. Sie sollte endgültig alle ökonomischen, sozialen und technischen Probleme der Infrastruktur sowie der Behausung der Massengesellschaft lösen. Unter anderem sollte jedem Menschen durch die Abdeckung seines grundlegenden Wohnbedarfs mittels standardisierten Wohnbaus auch eine individuell sinnstiftende Lebenspraxis ermöglicht werden.

Hundert Jahre nach ihrer Entstehung wissen wir heute, dass diese Vision weder im Kapitalismus noch im Sozialismus in einem umfassenden, gesellschaftsprägenden Sinn realisiert werden konnte. Jene Bauaufgaben des 20. Jahrhunderts, die am weitestgehenden von industriellen Herstellungsprozessen durchdrungen waren – der Plattenwohnbau in Osteuropa, die hochgradig vorgefertigten Eigenheime in den USA, der Siedlungsbau in Westeuropa, die technisch-militärischen Anwendungen und teilweise auch der Hochhausbau – waren entweder zeiträumlich begrenzt oder auf spezielle Sparten beschränkt. Eine umfassende Mechanisierung (heute: Digitalisierung) sämtlicher Bauprozesse aller Sparten – von der Bedarfserhebung über die Planung bis zur Produktion – ist auch im frühen digitalen Zeitalter noch nicht in Sicht: Weltweit wird der überwiegende Großteil aller Bauten immer noch intuitiv geplant und handwerklich hergestellt – angepasst an lokale Ressourcen, Mentalitäten und Bauvorschriften.

Bauausstellung der DDR in Berlin: WBS 70 Plattenbau, Erker-Element vom VEB Wohnungsbaukombinat Berlin © Wiki Commons, Jörg Blobelt

Bauausstellung der DDR in Berlin: WBS 70 Plattenbau, Erker-Element vom VEB Wohnungsbaukombinat Berlin © Wiki Commons, Jörg Blobelt

Die weitgehend industrielle Produktion von Gebäuden mittels verschiedenster Vorfertigungs-Technologien ihrer (auf der Baustelle handwerklich zusammengebauten) Elemente existierte indes schon lange vor ihrer „Entdeckung“ durch die Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Der wegen seiner vollständigen Vorfertigung aus Gußeisenelementen und Glasplatten oft als Beginn der Bau-Industrialisierung präsentierte Crystal Palace in London 1851 war jedoch so revolutionär, dass er zu seiner Entstehungszeit nicht einmal von Fachleuten als „Architektur“ wahrgenommen wurde. Deren Begriff war noch untrennbar mit dem handwerklichen Massivbau verknüpft.

Beim Holzbau hatte die Vorfertigung von Holzelementen für großangelegte Kolonisierungskonzepte sogar schon Jahrzehnte vorher begonnen: Das Londoner Unternehmen Manning lieferte ab 1820 derartige Systeme für 5 000 englische Siedler in der südafrikanischen Kap-Provinz und in den 1830er Jahren auch für Australien. Die zügige Besiedelung des amerikanischen Westens wurde ebenfalls wesentlich von vorfabrizierten Holz- und Eisenpaneel-Systemen ermöglicht. So werden in der Literatur vorwiegend englische und amerikanische Beispiele für eine frühe und auf Siedlungen beschränkte Bau-Industrialisierung vor 1900 genannt. Einige Systeme dieser Ära – wie etwa jene des englischen Unternehmens Calway and Co., des Liverpooler Ingenieurs J. A. Brodie und des New Yorker Architekten Grosvenor Atterbury – basierten bereits auf Betonpaneelen, während das deutsche Unternehmen Christoph & Unmack seit 1882 Holzelemente für die Baracken des preußischen Militärs produzierte.

Die Avantgarde entdeckte diese Systeme erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg für sich. In den 1920er Jahren steigerte sie diese Euphorie zu einem dogmatischen, nun durchaus weltanschaulich gemeinten Begriff industriellen Bauens als ideologisches System – analog zu den politischen Systemen jener Zeit, die ebenfalls absolut und alternativenlos konzipiert waren: „Wir akzeptieren die Maschine als das Werkzeug unserer Zeit. Das bedeutet, dass wir damit auch eine Gesellschaftsordnung anerkennen, die sich in ihrer Grundstruktur völlig den Folgen der Industrialisierung angepasst hat“, sagte Konrad Wachsmann, der beim deutschen Fertighaushersteller Christoph und Unmack in den 1920er Jahren als Architekt begonnen hatte und international mit seinen leichten Stabtragwerken bekannt wurde, die er im US-Exil ab den 1940er Jahren entwickelte.

Friedrich Kurt Fiedler, Werbeflyer für Christoph & Unmack (Niesky) © Wiki Commons, Dr. Uwe Fiedler (Flyer im Familienarchiv)

Friedrich Kurt Fiedler, Werbeflyer für Christoph & Unmack (Niesky) © Wiki Commons, Dr. Uwe Fiedler (Flyer im Familienarchiv)

Wir akzeptieren die Maschine als das Werkzeug unserer Zeit. Das bedeutet, dass wir damit auch eine Gesellschaftsordnung anerkennen, die sich in ihrer Grundstruktur völlig den Folgen der Industrialisierung angepasst hat.

Konrad Wachsmann

 

Dieses umfassend lebensreformatorische Bauverständnis war jedoch – im Gegensatz zu pragmatischen Konzepten, die sich auf leicht integrierbare neue Bauweisen beschränkten – unter freien Verhältnissen der Marktwirtschaft schon wegen des grundlegenden menschlichen Distinktionsbedürfnisses zum Scheitern verurteilt. Nur unter den besonderen Bedingungen von Diktaturen oder jenen der US-Kriegswirtschaft konnte es durch staatlich subventionierte Projekte in abgegrenzten Teilbereichen implementiert werden.

Der Bauhaus-Gründer Walter Gropius war der Pionier dieser „weltanschaulichen“ Betrachtungsweise der Industrialisierung. Paradoxerweise entstand diese aber just unter künstlerischen Vorzeichen: Während seiner Mitarbeit bei Peter Behrens verfasste Gropius gemeinsam mit diesem 1909/10 ein „Programm zur Gründung einer allgemeinen Hausbaugesellschaft auf künstlerisch einheitlicher Grundlage m.b.H.“. Dieses Manifest war an die Führung des AEG-Konzerns gerichtet und basierte auf Behrens’ Erfahrungen im Siedlungsbau für das Unternehmen.

Seinem ambitionierten Titel wird das Manifest von Gropius jedoch kaum gerecht, da es, so Winfried Nerdinger, „außer Anregungen zur Normierung von Bauteilen keinerlei Ideen zur Fertigung und Produktion (enthält) – und im übrigen waren standardisierte Fertigbausysteme in den USA, England und auch Deutschland schon längst entwickelt.“ Das allgemeine Ziel der Herstellung von Gebrauchsgegenständen auf „künstlerisch einheitlicher Grundlage“ stammt vom industriekritischen Gesamtkunstwerk-Ideal der Art-Nouveau- und der Arts-and-Crafts-Bewegungen um 1900. Es findet es sich auch im Programm des 1907 von Peter Behrens, Josef Hoffmann, Joseph Maria Olbrich, Paul Schulze-Naumburg und anderen gegründeten Deutschen Werkbundes.

J. Th. Hamacher und Peter Behrens, Siedlung für die Gemeinnützige Bauaktiengesellschaft Oberschöneweide (Gebag), Berlin, 1919-23 © Landesdenkmalamt Berlin

J. Th. Hamacher und Peter Behrens, Siedlung für die Gemeinnützige Bauaktiengesellschaft Oberschöneweide (Gebag), Berlin, 1919-23 © Landesdenkmalamt Berlin

Ein latenter Widerspruch, der die Geschichte der Werkbünde auch weiterhin begleiteten sollte, liegt in der scheinbar paradoxen Verbindung der Adjektive „einheitlich“ und „künstlerisch“: Kann Individualität (des Nutzers) just durch Normierung (seiner Gebrauchsobjekte) ermöglicht werden? Durch das Einfallstor einer „künstlerischen Anleitung“ der Wirtschaft wollte Gropius offenbar etwas „Unkünstlerisches“ bewirken: nämlich eine standardisierte Bauproduktion, die mit ihrer radikalen Normierung des Produkts – eventuell auch der Nutzungsweisen – bei der Realisierung einer selbstverwirklichenden Lebenspraxis durch den Konsumenten definitiv einen emanzipatorischen Aufwand des Letzteren erfordert, den nicht jeder leisten kann oder will. So gesehen handelt es sich durchaus um ein elitäres Konzept.

Vorschau auf Teil 2: Europäische Prototypen der 1920er und 1930er Jahre: Walter Gropius und Konrad Wachsmann

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