LIU JIAKUN: ARCHITEKTUR ALS STILLES ECHO DER NATUR

PRITZKER-PREIS

Es ist ein leiser Moment, in dem sich Geschichte dreht: Liu Jiakun, Architekt aus dem chinesischen Chengdu, ist der diesjährige Träger des Pritzker-Preises – der renommiertesten Auszeichnung der internationalen Architekturwelt. Eine Wahl, die nicht überrascht, aber doch etwas verschiebt: nicht in Richtung des Spektakels, sondern der Stille. Liu steht für eine Architektur, die nicht nur mit der Natur in Dialog tritt, sondern sie als Mitautorin begreift. Und das in einer Zeit, in der die Umweltfrage längst im Zentrum des Architekturdiskurses angekommen ist. Liu ist nicht der erste Pritzker-Preisträger, der das Thema ernst nimmt – aber er bringt eine eigene, poetische Konsequenz in die Debatte ein.

Text Arian Lehner | Foto: Liu Jiakun, Photo courtesy of The Hyatt Foundation/The Pritzker Architecture Prize


Die Methode statt des Stils Liu Jiakuns Projekte tragen keine architektonische Handschrift im klassischen Sinne. Sie sind nicht wiedererkennbar an einer Geste, einem Formprinzip oder einem Materialfetisch. Sie sind wiedererkennbar an einer Haltung. „Ich versuche, wie Wasser zu sein“, sagt Jiakun. „Ich will mich in einen Ort hineinbewegen, ohne eigene Form, mich mit ihm verbinden und dann langsam verfestigen.“ Seine Architektur formt sich aus der Auseinandersetzung mit dem Konkreten, mit der Geschichte, dem Klima, den Menschen. Daraus entsteht eine „Strategie statt eines Stils“, wie die Pritzker-Jury formuliert. Architektur als Methode der Anpassung – nicht als Ausdruck des Egos. Jeder Entwurf ist eine eigene Antwort auf eine spezifische Umgebung, nicht Teil einer formalen Serie. In fast allen seiner Projekte spielt die Natur nicht nur eine atmosphärische, sondern eine strukturelle Rolle. Im „West Village“, einem hybriden Stadtblock in Chengdu, wachsen Gräser durch perforierte Pflastersteine. Die Wege führen über Rampen, durch Innenhöfe, vorbei an offenen Sportflächen und kleinen Gärten. Architektur wird hier zur Trägerin von Alltag – nicht zum Statement. Bei der Renovierung des Tianbao Cave District in Luzhou verschmilzt der Bau mit der Klippenlandschaft. Fenster bleiben offen für bestehende Bäume. Dächer schützen Pflanzen. Das Shuijingfang Museum wiederum nutzt Baustoffe aus Trümmern des Erdbebens von Wenchuan – ein materielles Gedächtnis des Ortes, das mit der lokalen Vegetation verwoben ist. Die Grenze zwischen Gebaut und Gewachsen verschwimmt. Der Mensch ist nicht Beherrscher der Natur, sondern Teil ihres Kreislaufs.

Im Tianbao Cave District verschmilzt Jiakuns Architektur mit der Landschaft – Bäume bleiben bestehen, Dächer schützen die Vegetation. © courtesy of Arch-Exist

Nachhaltigkeit als Kontinuität Der Pritzker-Preis hat in den vergangenen Jahren mehrfach Position bezogen: Anne Lacaton und Jean- Philippe Vassal (Europa), Francis Kéré (Afrika) oder Alejandro Aravena (Südamerika) stehen für einen erweiterten Begriff von Nachhaltigkeit. Liu Jiakun reiht sich in diese Linie ein – und erweitert sie um eine spezifische Perspektive aus dem asiatischen Raum. Seine Architektur denkt Nachhaltigkeit nicht als Reaktion auf ein Problem, sondern als Kontinuität einer Lebensweise. Die Verwendung lokaler Materialien, der Einbezug der Topografie, der Respekt gegenüber gewachsenen Strukturen: Das sind keine Statements, sondern Selbstverständlichkeiten. Liu zeigt, dass Ökologie nicht immer neu gedacht werden muss, sondern manchmal einfach erinnert werden will. Jiakuns ökologische Haltung ist keine ideologische, sondern eine materielle. Viele seiner Bauten entstehen aus dem, was vor Ort zu finden ist: Erde, Steine, Bruchstücke. Nach dem Erdbeben in Wenchuan entwickelte sein Büro sogenannte „Rebirth Bricks“, Ziegel aus Trümmern, vermischt mit Weizenstroh und Zement. Aus der Katastrophe wurde ein Baustoff. Diese Haltung zieht sich durch: keine Importarchitektur, sondern eine Architektur der Umwandlung. Materialien zeigen ihre Narben. Wände bleiben roh. Nichts wird beschönigt, vieles verwandelt. Nachhaltigkeit ist hier keine Etikette, sondern ein Prozess, der stets mit den Menschen und ihrer Umgebung beginnt. Der Verzicht auf industriell gefertigte Materialien ist nicht romantisch, sondern funktional – eine Form von Resilienz...


Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 6/2025. Der Volltext ist ab Seite 16 zu finden.

Das könnte Sie auch interessieren

Newsletter Anmeldung

Wir informieren Sie regelmäßig über Neuigkeiten zu Architektur- und Bauthemen, spannende Projekte sowie aktuelle Veranstaltungen in unserem Newsletter.

Als kleines Dankeschön für Ihre Newsletter-Anmeldung erhalten Sie kostenlos ein architektur.aktuell Special, das Sie nach Bestätigung der Anmeldung als PDF-Dokument herunterladen können.