Queer-feministische Stimmen zu Raum

Critical Entries versteht sich als Plattform; sie sammelt und veröffentlicht queer-feministische Perspektiven auf Raum. In den kurzen Beiträgen der Autor:innen werden Macht- und Ungleichheitsverhältnisse sichtbar gemacht, Themen wie Wohnungsnot, häusliche Gewalt oder ökologische Krisen verhandelt und neue Denk- und Handlungsräume eröffnet.
Text: Critical Entries
Die Texte laden dazu ein, sich kritisch mit gängigen Raumpraktiken und -theorien auseinanderzusetzen und diese mit Blick auf Machtverhältnisse und Mechanismen der Ausbeutung und Diskriminierung zu hinterfragen. Queer-feministische Perspektiven zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestehende Verhältnisse nicht nur analysieren und sichtbar machen, sondern aktiv zur Überwindung dieser Strukturen beitragen. Seit 2024 betreibt die Plattform Critical Entries eine Instagramseite und einen Telegram-Kanal, auf denen kritische Kurztexte veröffentlicht werden – als Reaktionen auf aktuelle Debatten, als Interventionen im digitalen Raum oder als kritische Impulse zur Selbstverortung innerhalb der Disziplin. Die folgenden vier Beiträge sind im Rahmen dieses experimentellen Formats entstanden und werden hier erstmals außerhalb des Kanals dokumentiert.
ANGELIKA HINTERBRANDNER
(Wohn)raum für Wandel: vom Brandbeschleuniger zu neuen Formen des solidarischen Zusammenlebens
Wohnen ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf – es ist ein Spiegelbild sozialer Realitäten und Ungleichheiten. Die Wohnungskrise verschärft bestehende Probleme und trifft besonders jene, die ohnehin mit den Lebenshaltungskosten kämpfen. Bezahlbarer und ökologisch verträglicher Wohnungs(um)bau ist ein zentrales politisches Thema, eng verknüpft mit der Stabilität unserer Gesellschaft und Demokratie. Wenn wir die Wohnraumknappheit lösen, helfen wir, viele andere, scheinbar nicht zusammenhängende Probleme zu beheben – oder wir verschärfen sie. Mehr als 40 Prozent des Einkommens allein für Miete auszugeben ist das neue Normal. Ein Zustand, der Strukturen der Ungleichheit weiter zementiert. Zurück in den Feudalismus: Während die Überbelegung in Wohnungen von Familien mit geringen finanziellen Mitteln steigt, nimmt der Flächenverbrauch pro Person weiter zu. Suffizienz? Die, die sich das Heizen nicht mehr leisten können, sollen einen Pulli mehr anziehen. „Gutgemeinte Tipps“ – man könnte es auch Zynismus nennen – zeigen, wie wenig Bewusstsein es für die Realitäten von Armut gibt. Wer macht sich diese Situation zu Nutze? Akteur:innen, deren Ziel es ist, die Gesellschaft zu spalten. Es wird nach unten getreten, weil Angst und Unsicherheit vor der nächsten Krise, der steigenden Inflation und dem drohenden sozialen Abstieg Menschen gegeneinander aufhetzen. Was zuverlässig wächst, sind Radikalisierungstendenzen.

© Oliver Magda
ELISE PHU’O’NG HAØ NGUYEÙÚN
Über die Räumlichkeit von Care-Arbeit und bezahlter Arbeit
Viele Familienbetriebe in Migrant:innengemeinschaften kennzeichnet seit langem die Praxis gleichzeitiger Lohn- und Pflegearbeit: Familienmitglieder springen als Arbeitskräfte ein. Kinder machen ihre Hausaufgaben hinter der Kasse. Lohnarbeit und Pflege werden als eine Frage des täglichen Überlebens miteinander verwoben, verstärkt durch verwandtschaftliche Bindungen und Gemeinschaftsnetzwerke. Es handelt sich dabei nicht um neuartige Arrangements, sondern um seit langem bestehende Praktiken zur Sicherung des Lebensunterhalts, wo formale Systeme versagen. Sie zeigen, wie Erwerbs- und Pflegearbeit in gemeinsamen Räumen koexistieren können – nicht als Designstrategie, sondern als Notwendigkeit, die sich aus der strukturellen wirtschaftlichen Prekarität ergibt. Mittlerweile haben Planer:innen begonnen, die starren Trennungen des modernen Städtebaus in Frage zu stellen. Die Stadt als Maschine – mit ihren Dichotomien von Wohnen/Arbeiten, Produktion/Reproduktion, Menschlich/Nichtmenschlich und entsprechenden Auswirkungen auf die soziale Segregation – hat ihre Wurzeln in den Visionen modernistischer Architekturschaffender, die weitgehend von einem westlichen, männlich dominierten Diskurs geprägt wurden, und weicht nun flexibleren Modellen. Co-Working-Spaces, Homeoffice oder Telearbeit werden als innovative Lösungen gefeiert, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, weniger Pendeln und eine effizientere Nutzung des städtischen Raums versprechen. Diese Mainstream-Renaissance der gemischt genutzten Räume übersieht jedoch häufig die Lebensrealität jener, die diese Überschneidungen schon lange praktizieren. Für viele Migrant:innengemeinschaften ist die Kombination von Erwerbs- und Betreuungsarbeit in einem Raum keine Frage des Lebensstils, sondern eine widerstandsfähige Antwort auf wirtschaftliche und räumliche Unsicherheit sowie systemische Ausgrenzung. Bei der Anerkennung dieser Praktiken geht es nicht darum, prekäre Arbeit zu romantisieren. Es geht um die Anerkennung alternativer Raumkonzepte, die die Dichotomien der modernen Stadtplanung infrage stellen. Diese Praktiken erinnern uns daran, dass Räume niemals neutral sind: Sie werden durch Machtverhältnisse geformt, können aber durch alltägliche Handlungen der Fürsorge und Gemeinschaftspraxis widerstandsfähig werden.

© Privat
REBECCA WALL
Zaudern als regenerative Praxis
„Wir brauchen keine Zauderbude, wir brauchen eine Zauberbude!“ Dieser Aussage würden wahrscheinlich viele von uns mit Blick auf die aktuellen und andauernden Schrecken, Ungleichheiten und Verunsicherungen zustimmen. Dennoch ermöglicht das Zaudern als Moment der Unbestimmtheit (Vogl 2007) genau jene aktive Regeneration, die auch für eine klima- und sozialgerechte Zukunft essenziell ist. In sozial-ökologischen Wirtschaftsmodellen wie der Degrowth-Bewegung spielt Regeneration bereits eine zentrale Rolle. Maja Göpel und Eva von Redecker betonen in „Schöpfen und Erschöpfen“, dass der materielle Durchsatz einer Volkswirtschaft so stabilisiert werden müsse, dass Regeneration als essenzieller Teil der Produktionskette wieder möglich wird (Göpel, von Redecker 2022). In einem Forschungsprojekt zu zwei Berliner Modellprojekten kooperativer, gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung wandte ich diesen Ansatz gemeinsam mit Felix Marlow, Ignacio Farías und Weiteren auf das Feld der kooperativen Stadtentwicklung an. Dafür entwickelten wir die Zauderbude – einen Bauwagen, in dem Akteur:innen eingeladen wurden, ins Zaudern zu geraten. Inspiriert von Isabelle Stengers nutzten wir idiotische Mittel. Die Figur des Idioten bringt Pläne mit Hilfe von unerwarteten Fragen durcheinander und verlangsamt so die Konstruktion der gemeinsamen Welt (Stengers 2005). Mit der Zauderbude wollten wir eine Phase der aktiven Regeneration in kooperativer Stadtentwicklung ermöglichen: Unsicherheit zulassen, Unklarheit aushalten und durch umsorgendes In-Resonanz-Treten (Göpel, von Redecker 2022) neue Ressourcen für die Gestaltung einer gerechten Stadt der Vielen schaffen. Mehr zum Zaudern in unserer bei Adocs erschienenen Publikation: „Zaudern ums Gemeinwohl“, https:// adocs.de/de/buecher/praxis-open-accessebooks/zaudern

© Raquel Gómez Delgado
DILAN KARATAS
Häusliche Gewalt
Die Grundrisse der Wohnungen und Häuser, in denen wir im mitteleuropäischen Raum leben, sind geprägt durch die Ideologie männlicher Planer und Architekten. Eine Einteilung der Gesellschaft, die historisch auf naturalisierenden Argumentationssträngen beruht, erzeugt und reproduziert durch die ständige Wiederholung die soziale Kategorisierung und Einordnung in eine Geschlechterordnung, die sich in Räumen widerspiegelt (Terlinden 2010). Der patriarchalen und dichotomen Geschlechterordnung liegt eine Machtasymmetrie zugrunde, die durch die bauliche Ordnung des Wohnens verfestigt wird (Terlinden 2010). Dies führt zu einer Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre, die jedoch beide historisch und gegenwärtig männliche Repräsentationsräume sind (Wastl-Walter 2010). Gender-Pay- Gap und Gender-Care-Gap manifestieren Zustände, in denen Männer über mehr finanzielle Ressourcen verfügen und darüber häufiger im Besitz von Wohneigentum sind oder mietrechtlich an die Wohnung gebunden sind. Die Partner:innen und Kinder, die sich in diesen Wohnungen befinden, werden darauf reduziert, Teil dieses Besitzes zu sein. Nancy Fraser argumentiert, dass FLINTA* durch Liebe und Fürsorge in der Sphäre des Privaten gehalten werden und Aufgaben der Reproduktion übernehmen, die dazu dienen, dass der Mann im kapitalistischen System als Produktivkraft tätig bleiben kann (Fraser 2016). Diese gesellschaftliche Norm, die noch oft vorherrschende Realität ist, lässt auch das Paradoxon zwischen Schutzraum und Tatort von häuslicher Gewalt erklären: Frauen werden in den Wohnungen zu Objekten symbolischer Macht. Wohnen ist auch eines der Praxisfelder von symbolischer männlicher Macht, die aufgrund der naturalisierenden Herleitung der Zuordnung der Geschlechter zu der öffentlichen und privaten Sphäre keine Legitimation benötigt. Die bauliche Ordnung macht dies kontrollierbar, überschaubar und festigt die Machtasymmetrie im binären Geschlechtersystem zuungunsten von FLINTA*. Dies etabliert eine Praxis, in der der vermeintliche Schutzraum der eigenen Wohnung zum Tatort wird.
© Privat
Mehr zu unser aktuellen Ausgabe 7-8/2025. Der Text ist ab Seite 96 zu finden.