Selina Wach im Gespräch mit Ilka Ruby

Ilka Ruby ist Architektin, Kuratorin und Verlegerin in Berlin. Gemeinsam mit Andreas Ruby gründete sie 2008 den Verlag Ruby Press, der sich auf kritische Publikationen zu Architektur, Städtebau und Design spezialisiert hat. Dieses Jahr hat sie als Co-Kuratorin mit Liene Jākobsone, SAMPLING und NOMAD architects den lettischen Pavillon „Landscape of Defence“ kuratiert, der die zunehmende Militarisierung europäischer Grenzräume thematisiert.
[Selina Wach]: Der Pavillon positioniert Lettland als Schwelle zwischen EU, NATO und postsowjetischem Raum, als sensible Zone der Demokratie. Ist das Baltikum ein Gradmesser dafür, wie viel Freiheit Europa noch zulässt?
[Ilka Ruby]: Wenn man dort ist, fühlt es sich tatsächlich sehr anders an als in Deutschland. Das Bewusstsein für Bedrohung ist deutlich ausgeprägter, ebenso die Akzeptanz, Geld für Verteidigung auszugeben. Das hat mit der geografischen Nähe zu Russland zu tun, aber auch mit der besonderen Geschichte: Zwischen den Weltkriegen erlebte das Land eine sehr kurze Phase der Unabhängigkeit, vorher war es Teil des Russischen Reichs, danach von der Sowjetunion besetzt. Erst seit 1990 ist es wieder unabhängig. Dieses Auf und Ab prägt das kollektive Gedächtnis. Die lange sowjetische Zeit hat außerdem einen hohen Anteil russischsprachiger Bevölkerung hinterlassen, gerade in Grenzgebieten, die zudem dünn besiedelt sind. Dort leben viele Menschen, deren Satellitenschüsseln Richtung Moskau zeigen – ein sichtbares Symbol für den Kampf um Deutungshoheit und gezielte Propaganda. Es gibt in Lettland seit einiger Zeit sogar militärisches Training in Schulen, teilweise mit Schießübungen. Diese Militarisierung erinnert eher an Israel. Natürlich wird auch dort diskutiert, ob zu viel Geld ins Militär fließt und zu wenig in zivile Bereiche. Gleichzeitig haben Bürger:innen die Möglichkeit, freiwillig eine militärische Ausbildung zu absolvieren und sich so aktiv in die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit einzubringen. Dass sich in Deutschland ein solches System etablieren würde, halte ich für kaum vorstellbar. Hier bleibt diese Bedrohung oft abstrakter.
[SW]: Welche Rolle spielt Architektur in diesem Spannungsfeld zwischen Schutzbehauptung und Abschottung?
[IR]: Das ist letztlich auch eine Frage der Definition von Architektur. Für uns ist „Landscape of Defence“ ein stark landschaftlich geprägtes Thema, Architektur, Infrastruktur und Landschaft bilden hier einen untrennbaren Komplex. Wenn Grenzübergänge geschlossen werden, verwandeln sich Straßen oder ganze Gebiete in Einbahnstraßen. Das beeinflusst die Entwicklung einer Region, die ohnehin schon immer am Rand lag, bislang aber keine befestigte Grenze kannte. Heute gibt es diese harte Grenze – mit klarer Isolation und einer verstärkten Randposition. Physisch zeigt sich das in einem neu errichteten Grenzzaun, Bunkern und Verteidigungsanlagen wie „Dragon Teeth“ oder Panzersperren, die zunächst gelagert, im Falle einer Invasion aber entlang der Grenze verteilt werden sollen. Solche Elemente tauchen plötzlich in der Landschaft auf und verändern ihre Wahrnehmung massiv. Der erst kürzlich fertiggestellte 420 Kilometer lange Zaun an der Grenze zu Russland und Belarus wurde jedoch nicht zum Aufhalten von Panzern gedacht, IR: Das ist letztlich auch eine Frage der Definition von Architektur. Für uns ist „Landscape of Defence“ ein stark landschaftlich geprägtes Thema, Architektur, Infrastruktur und Landschaft bilden hier einen untrennbaren Komplex. Wenn Grenzübergänge geschlossen werden, verwandeln sich Straßen oder ganze Gebiete in Einbahnstraßen. Das beeinflusst die Entwicklung einer Region, die ohnehin schon immer am Rand lag, bislang aber keine befestigte Grenze kannte. Heute gibt es diese harte Grenze – mit klarer Isolation und einer verstärkten Randposition. Physisch zeigt sich das in einem neu errichteten Grenzzaun, Bunkern und Verteidigungsanlagen wie „Dragon Teeth“ oder Panzersperren, die zunächst gelagert, im Falle einer Invasion aber entlang der Grenze verteilt werden sollen. Solche Elemente tauchen plötzlich in der Landschaft auf und verändern ihre Wahrnehmung massiv. Der erst kürzlich fertiggestellte 420 Kilometer lange Zaun an der Grenze zu Russland und Belarus wurde jedoch nicht zum Aufhalten von Panzern gedacht, sondern soll hybrider Kriegsführung begegnen, vor allem der von Russland über Belarus betriebenen instrumentalisierten Migration. Die Grenze Lettlands und der EU zu Russland und Belarus ist zwar eine Linie, wie sie nun auch durch den Zaun markiert wird. Aber schon davor gibt es eine Grenzlandschaft mit systematisch abgestufter Unzugänglichkeit. Ein zwei Meter breiter Bereich vor dem Grenzzaun darf nicht betreten werden, der davor liegende zwei Kilometer breite Steifen nur mit einer Sondergenehmigung. Dort sind Grenzschutz-Patrouillen im Einsatz, es gibt verstärkte Überwachung und regelmäßige Kontrollen, auch für die Bewohner:innen dieses Streifens. Noch weiter ins Landesinnere reicht eine 30 Kilometer breite Zone, die als Verteidigungsterritorium gilt. In diesem Bereich werden Bunker errichtet. Auch hier mischen sich Lager für Verteidigungselemente und zusätzliche Überwachung mit zivilen Nutzungen wie Dörfern, Feldern, kulturellen und touristischen Einrichtungen. So liegt etwa ein Forschungszentrum der Daugavpils-Universität mit der größten Käfersammlung des Baltikums nur 400 Meter von der Grenze zu Belarus entfernt. Genau diese Überlagerung von Alltagslandschaft und militärischer Infrastruktur wollten wir sichtbar machen.

Verteidigungsarchitektur mit Panzersperren und „Dragon Teeth“ prägt die Landschaft und markiert eine neue Phase harter Grenzziehung. © Ministry of Defence of the Republic of Latvia
[SW]: Wie beeinflusst das Vorhandensein von Zäunen, Überwachung und militärischen Bauten neben den Landschaften auch das Bewusstsein der Zivilbevölkerung?
[IR]: Wenn Verteidigungsinfrastrukturen beginnen, den zivilen Raum zu prägen, zeigt sich in Lettland, wie militärische Elemente – Zäune, Bunker, Sperren – Teil des Alltags und in Landschaften integriert werden. Das wirft die Frage auf, wie sehr wir uns an diese Präsenz gewöhnen und ab wann sie die zivile Kultur verändert. Früher wusste man vielleicht theoretisch, dass es dort eine Grenze gibt. Jetzt sieht man sie. Das verändert die Wahrnehmung: Die Grenze kann Angst auslösen, weil die Bedrohung dadurch präsenter wirkt. Aber sie kann auch Sicherheit geben, weil sie sichtbar macht, dass etwas unternommen wird, um zu schützen. Wir haben Interviews mit Anwohner:innen geführt und beides gehört: die Sorge vor einer Eskalation und das Gefühl, geschützt zu sein. Psychologisch spielt sich hier ein ambivalentes Wechselspiel ab. Jede Grenze – ob virtuell oder physisch – erzeugt ein Innen und ein Außen. Wird sie physisch, verstärkt sich diese Trennung spürbar. Nicht nur die Landschaft verändert sich, sondern auch der Alltag der Menschen. Orte, die früher frei zugänglich waren, liegen nun in einem überwachten militärischen Kontext. Wer dort lebt, muss Genehmigungen mit sich führen und ist Teil einer ständigen Sicherheitslogik. In Gesprächen mit Militärs wurde zudem deutlich, dass die Bevölkerung in der Grenzregion selbst als Sicherheitsfaktor gilt, als eine Art zusätzliche „Überwachung“ des Gebiets. Die dort Lebenden sind sensibilisiert, nehmen Veränderungen wahr und melden Vorkommnisse. Hier wird ein Prinzip sozialer Kontrolle, wie man es aus Architektur und Städtebau kennt, in militärischer Logik eingesetzt.

Wo früher offene Landschaft war, regulieren heute Zutrittsverbote und Sicherheitszonen das alltägliche Leben. © Elīna Kursīte
[SW]: Wie kann man eine Architektur der Angst in eine Ausstellung übersetzen, ohne sie zu ästhetisieren?
[IR]: Uns war wichtig, zunächst die Realität im Grenzgebiet erlebbar zu machen. Dafür entwickelten wir drei zentrale räumliche Elemente. Ein umlaufender Vorhang mit einer Fotocollage zeigt die Landschaft, wie sie ist: schön, weit, oft idyllisch – und zugleich durchsetzt mit Verteidigungsobjekten. Eine eigens gezeichnete Karte der 30-Kilometer-Zone, inspiriert von Stadt- und Militärkarten, markiert Dörfer, geschlossene Grenzübergänge, Lager von Verteidigungselementen und Überwachungsorte ebenso wie zivile Nutzungen, die nun Teil einer militärischen Sonderzone sind. Dazu kommen 1:1-Modelle von Verteidigungsobjekten, gefertigt aus grellgelbem, weichem Material statt aus Metall oder Beton. Aus demselben Material besteht auch eine einfache Bank, ein Alltagsobjekt, das hier Teil der militärisch geprägten Szenerie wird. Ergänzt wird dies durch zwei Überwachungselemente: ein Pfosten mit Überwachungskameras und ein Monitor- Arrangement aus sechs Bildschirmen, angeordnet wie in einem Kontrollraum. Die Videos dort zeigen Interviews mit Anwohner:innen und filmische Landschaftsaufnahmen. Wir wollten einen Reflexionsraum schaffen, der die Ambiguität dieser „Landscape of Defence“ transportiert: Welche Rolle spielt Architektur und Städtebau, wenn solche Strukturen entstehen?
[SW]: Wie wurde der Pavillon aufgenommen?
[IR]: Wir haben eine Debatte angestoßen über ein Thema, das es eigentlich schon immer in der Architektur gab, das aber etwas aus dem Blick geraten ist. Als Architekt: in, Landschaftsarchitekt:in oder Städtebauer: in beschäftigte man sich bisher nicht unbedingt mit Fragen der militärischen Verteidigung. Obwohl jegliche Behausung immer auch dem Schutz dient – vor Regen, Sonne, vor Blicken, vor unerwünschtem Zugang etc. Historisch betrachtet hat sich mit der Sesshaftwerdung der Menschen auch die Form der Verteidigung komplett verändert: Während nomadische Völker in Bewegung waren und sich im Ernstfall in sichere Gebiete zurückzogen, mussten sesshafte Völker zum Schutz der Bevölkerung, der Nahrungsvorräte, der Rohstoffe und der gesammelten Güter Verteidigungsanlagen bauen. Überlegungen der Verteidigung haben also schon immer unsere Siedlungen und Städte geprägt. Die Verlagerung des Kriegs in den Luftraum stellte dann die Bedeutung der befestigten Grenze als befestigte Linie komplett in Frage. Heute mit immer ausgefeilterer Überwachungstechnologie, KI und hochmodernen Waffen werden Kriege hybrid geführt. Verteidigung hat sich dementsprechend auch vom physischen in den virtuellen Raum verlagert. Doch durch den Angriff Russlands auf die Ukraine wurde die physische Dimension plötzlich wieder schmerzhaft deutlich. Der Angriffskrieg Russlands, die Wiederwahl Donald Trumps, all das führt dazu, dass die bestehende Weltordnung gerade neu verhandelt wird. Das hat zu einer großen Verunsicherung in der EU geführt. Das Baltikum ist besonders verwundbar – durch seine Lage und durch seine Geschichte. Auch wenn die Biennale zum großen Teil aus den Länderpavillons besteht, konnten wir deutlich machen, dass „Landscape of Defence“ ein Thema ist, das weit über Lettland hinaus die EU betrifft. Der lettische Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig von Ilka Ruby ist noch bis 23. November 2025 am Gelände des Arsenale zu sehen.
Mehr zu unser aktuellen Ausgabe 9/2025. Der Text ist ab Seite 110 zu finden.