Modern Classics 17

Sozialer Wohnungsbau – Die Anfänge

Shipley und Saltaire, UK (c) Wiki Commons, Tim Green from Bradford

Die Geschichte der modernen Architektur ist untrennbar mit der „Behausungsfrage“ verbunden: Viele Innovationen und ein guter Teil der gesellschaftlichen Wirkung der künstlerischen Moderne entstand in der Bearbeitung dieser Grundfrage menschlichen Zusammenlebens. Eine Miniserie zur Geschichte des Phänomens und seine Wirkungen auf unsere Gegenwart.


 

Was ist „sozialer Wohnungsbau“? Wie entstand er? Gibt es ein Menschenrecht auf eine würdige Wohnung für jedermann? Schon auf die grundlegende letzte Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Denn in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (UNO) aus dem Jahr 1948 fehlt just die explizite Erwähnung eines „Rechts auf Wohnung“. Es hätte damals – in den Flüchtlingswirren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg – allerdings viele Länder vor unlösbare Probleme gestellt und einen entsprechenden Artikel der UNO-Erklärung zu „totem Recht“ gemacht. Implizit findet sich in der Erklärung in Artikel 25 aber dennoch eine Art Anspruch auf würdige Behausung: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“

Die philanthropische Haltung manch bedeutender Unternehmer ist keineswegs zu unterschätzen: Sie errichteten für ihre Arbeiter Wohnungen, die oft – auf aktuelle Standards gebracht – sogar heute noch gute Lebensqualität bieten.

 

Die Staaten sind also aufgerufen, einen „Lebensstandard“ zu gewährleisten, der unter anderem eine angemessene Wohnung beinhaltet. Sie sind hingegen nicht verpflichtet, die Wohnung gleichsam von Staats wegen jedermann proaktiv zur Verfügung zu stellen. Damit ist das „Lebensmittel“ Wohnung dem freien Markt überantwortet, der wiederum – je nach dominierender Kultur eines Staates – mehr oder weniger strikt reguliert ist. Dieser Status gilt noch heute – aber wie sah es vor 200 Jahren aus, als die frühe Industrialisierung das Problem erstmals virulent machte? Breiter Wohnungsbedarf entstand damals durch die zunehmende Urbanisierung, durch das neuartige Recht des Einzelnen, seinen Wohnort selbst zu bestimmen, und durch die enorme Nachfrage nach Arbeitskräften durch die neuen, von der Erfindung der Dampfmaschine ausgelösten Fabriken, vor allem im Textilbereich.

Stadtplan von Saltaire in den 1860ern © West Yorkshire Archive Service_edited

Stadtplan von Saltaire in den 1860ern © West Yorkshire Archive Service_edited

Zahllose Menschen verließen seither ihre meist unzulänglichen Wohnorte und harten Arbeitsbedingungen auf Bauernhöfen und Landgütern, wo sie oft der Willkür des Gutsbesitzers ausgeliefert waren. Diese Willkür wurde allerdings gegen die Gnade des Fabriksbesitzers getauscht, der seinen Arbeitern und ihren Familien entweder menschenwürdige, neu erbaute Wohnungen zur Verfügung stellte – oder eben nicht. Die katastrophalen Wohnungsverhältnisse der frühen Industriezeit waren ja der Auslöser für die Entstehung der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Parteien.

Der Werkswohnungsbau des frühen 19. Jahrhunderts war also der erste Schritt in Richtung eines organisierten, effizienten und staatlich beaufsichtigten oder gar vom Staat selbst unternommenen Wohnungsbaus für Bedürftige. Dabei ist die philanthropische Haltung manch bedeutender Unternehmer keineswegs zu unterschätzen: Sie errichteten für ihre Arbeiter Wohnungen, die oft – auf aktuelle Standards gebracht – sogar heute noch gute Lebensqualität bieten. Dieser frühe Arbeiter- und Werkswohnungsbau fand in beachtlichen Dimensionen statt: Anlagen von mehreren hundert Wohneinheiten in ausgedehnten Siedlungen waren schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit. Der philanthropische Werkswohnungsbau konnte sogar die Dimension kleiner Städte annehmen, wie es die vom Industriellen und liberalen Parlamentsabgeordneten Sir Titus Salt (1803-1876) errichtete und nach ihm benannte Arbeiterstadt Saltaire bei seiner Wollzeugfabrik im mittelenglischen Bradford beweist. Dieses große urbanistisch-soziale Werk mit Gesundheits- und Bildungseinrichtungen gilt als erste Modell-Industriestadt und wird noch heute bewohnt.

Saltaire, Caroline Street (c) Wiki Commons, Simon Cobb

Saltaire, Caroline Street (c) Wiki Commons, Simon Cobb

Auch in Österreich, dessen Industrialisierung sich bedeutend später und langsamer entwickelte als jene Englands, gab es im 19. Jahrhundert einige sozial denkende Fabriksbesitzer, darunter Max Todesco, Heinrich Liebig, Josef Werndl und Arthur Krupp. Diese Industriellen errichteten bei ihren Fabriken große Arbeitersiedlungen mit zentralen Sozialeinrichtungen: Todesco ab 1846 in Gramatneusiedl/Marienthal, Liebig ab 1868 in Reichenberg/Liberec, Werndl ab 1875 in Steyr und Krupp ab 1880 in Berndorf. Die Wohnungsbauten der Textilfabrik im niederösterreichischen Marienthal (unter anderem auch bekannt durch die 1933 erschienene berühmte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Hans Zeisel und Paul Felix Lazarsfeld) entstanden in mehreren Etappen ab 1846 und boten für damalige Verhältnisse gute Wohnverhältnisse für die Arbeiterfamilien. Die Siedlung und die Historie der Fabrik wurde von Reinhard Müller vom Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich auf einer eigenen Website sehr gründlich dokumentiert. 

Marienthal, Lageplan der Fabrik und der Arbeiterwohnhäuser (c) Reinhard Müller, AGSO Graz

Marienthal, Lageplan der Fabrik und der Arbeiterwohnhäuser (c) Reinhard Müller, AGSO Graz

Forschungsbedarf besteht noch ganz allgemein zu den realen zeitgenössischen Verhältnissen in diesen Werkswohnungsbauten – bezüglich konkreter Belagsgröße der Wohnungen, Zeitpunkt der Einleitung von Fließwasser (üblicherweise musste man bis in die 1890er Jahre das Wasser vom Gemeinschaftsbrunnen vor dem Haus holen, ebenso wie das Brennholz von den Holzlagen daneben und zudem Gemeinschafts-Abortanlagen benützen). Dies auch im Vergleich mit internationalen Standards jener Frühzeit des sozialen Wohnungsbaus. Max Todesco (1813-1890) ließ in Marienthal wie erwähnt schon ab 1846 Arbeiterwohnungen errichten, darunter als ältestes erhaltenes Haus das Gebäude An der Fischa 1, in dem rund 70 Wohneinheiten mit Küche und Zimmer (einige sogar mit zusätzlichem Kabinett) untergebracht waren.

Marienthal, An der Fischa 1, 1846 ff. (c) M. Boeckl

Marienthal, An der Fischa 1, 1846 ff. (c) M. Boeckl

Marienthal, An der Fischa 1, Grundriss (c) Reinhard Müller, AGSO Graz

Marienthal, An der Fischa 1, Grundriss (c) Reinhard Müller, AGSO Graz

Ein zweiter vorbildlicher Bauherr des frühen Arbeiterwohnungsbaus war Josef Werndl (1831-1889), der die berühmte Waffenfabrik in der oberösterreichischen Industriestadt Steyr betrieb. Er ließ von den lokalen Baumeistern Franz Arbeshuber und Anton Plochberger ab 1875 am Eisenfeld eine Siedlung errichten, deren ersten Bauabschnitt der große Architekturhistoriker und Literat Friedrich Achleitner (1930-2019) in seinem Inventar „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ im ersten, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg gewidmeten Band 1980 knapp und informativ beschrieb: „Die Siedlung bestand aus vier ebenerdigen Einzelhäusern und 18 Doppelhäusern. In den Doppelhäusern befanden sich 8 Wohneinheiten (bestehend aus einem Zimmer mit 20 Quadratmetern), in den Einzelhäusern drei Wohneinheiten mit zwei Einzelzimmern und einer Wohnung mit Zimmer, Küche, Kabinett in der Größe von rund 40 Quadratmetern.

 

Steyr, Eisenfeld-Siedlung, ab 1875, Lageplan (c) Friedrich Achleitner RNF

Steyr, Eisenfeld-Siedlung, ab 1875, Lageplan (c) Friedrich Achleitner RNF

Das heißt, jede Hausreihe hatte eine bessere Wohneinheit, die vermutlich von einer dem Fabriksherrn verantwortlichen Person bewohnt wurde. Die Klosetts befanden sich in den schmalen Bauwichen zwischen den Doppelhäusern (je 4), sodass auf zwei Familien ein Klosett kam.“ – In den nächsten Folgen der Serie berichten wir über die Weiterentwicklung des sozialen Wohnungsbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

In der nächsten Folge dieser Reihe geht es um die technischen Grundlagen dieser Entwicklungen, nämlich die ersten industriell hergestellten Baumaterialien.

Steyr, Eisenfeld-Siedlung, ab 1875, Grundriss und Ansicht der Doppelhäuser (c) Friedrich Achleitner RNF

Steyr, Eisenfeld-Siedlung, ab 1875, Grundriss und Ansicht der Doppelhäuser (c) Friedrich Achleitner RNF

Das könnte Sie auch interessieren

Newsletter Anmeldung

Wir informieren Sie regelmäßig über Neuigkeiten zu Architektur- und Bauthemen, spannende Projekte sowie aktuelle Veranstaltungen in unserem Newsletter.

Als kleines Dankeschön für Ihre Newsletter-Anmeldung erhalten Sie kostenlos ein architektur.aktuell Special, das Sie nach Bestätigung der Anmeldung als PDF-Dokument herunterladen können.