Regonialer Projektüberblick

Vier belgische Architekturprojekte im Fokus

Belgien nimmt seit Jahren eine prägende Rolle im europäischen Architekturdiskurs ein. Zwischen expressivem Brutalismus, sensibler Bestandserweiterung und sozialräumlicher Verantwortung entfaltet sich eine architektonische Vielfalt, die präzise auf die Kontexte urbaner wie peripherer Räume reagiert. Die ausgewählten Projekte – darunter der Bahnhof Ostende, der kompromisslose Brutalist Duplex RST13/14 in Antwerpen, die Fakultät für Architektur in Tournai sowie ein Senior:innenwohnkomplex in Aarschot – verdeutlichen die Bandbreite zeitgenössischer Architektur in Belgien. Sie spiegeln nicht nur den differenzierten Umgang mit Geschichte, Infrastruktur und Gesellschaft wider, sondern zeigen auch, wie sich gestalterische Haltung und soziale Relevanz produktiv verbinden lassen.


 

Bahnhof Ostende | Dietmar Feichtinger Architectes

Ort: Ostend, Belgien | Foto: David Boureau

Ein leichtes, dezent färbiges Dach bildet das neue Bindeglied zwischen Stadt und Wasser, Eisenbahn und Nahverkehr. Seine Farbigkeit und Transparenz stehen für das neue Ostende, das sich im 21. Jahrhundert einmal mehr als Knoten zwischen England und dem Kontinent neu erfinden muss. Den bestehenden Bahnhof der belgischen Küstenstadt Ostende in einen modernen Hub zu verwandeln – in einen Verkehrsknotenpunkt, an dem unterschiedliche Transportmittel wie Bahn, Schiff, Tram, Fahrrad und Autos zusammenkommen und ein fließendes Umsteigen ermöglichen – war Gegenstand eines ambitionierten Wettbewerbs. Dietmar Feichtinger Architectes gewannen den Wettbewerb mit einer Stahlkonstruktion, die ein transluzentes Dach trägt und sämtliche Gleisanlagen überdeckt (nicht etwa nur die einzelnen Bahnsteige). Sie setzt sich aus Modulen von 15 m x 15 m zusammen, wodurch es während der Bauzeit möglich war, pro Bauabschnitt nur zwei Gleise stillzulegen, während der restliche Bahnhof in vollem Betrieb war. Feichtingers Hub integriert die neu verlegten, nun unmittelbar neben dem Bahnhof situierten Haltestellen der städtischen und regionalen Busse und Straßenbahnen in den überdachten Bereich, wodurch ein geschütztes Umsteigen ermöglicht wird. Ein fünfgeschossiger Baukörper säumt stadtseitig die Gleisanlagen. Er folgt der sanften Kurve der Gleise über 400 Meter und beherbergt eine Parkgarage für 670 Autos. Zum Hub gehört auch eine im vorderen Bereich des Bahnhofs gelegene Fahrradgarage, die sich in ihrem Ausmaß an jenen in Amsterdam und Kopenhagen orientiert. Sie liegt im Untergrund und ist über mehrere kreisrunde Öffnungen in der Decke natürlich belichtet. Die Überdachung besteht aus Sheds, wobei die vertikalen Abschnitte die natürliche Durchlüftung gewährleisten, während die geneigten Flächen aus bunten Polycarbonat-Stegplatten das Tageslicht filtern. (...)


 

© David Boureau

Brutalist Duplex RST13/14 | Studio Okami

Ort: Antwerpen, Belgien | Foto: Tim Van de Velde

Der Riverside Tower wurde von den zwei führenden lokalen Modernisten, Léon Stynen und Paul De Meyer, entworfen. Dieses Hochhaus gilt unter den vielen Betonbauten, die in den Nachkriegsjahrzehnten schnell das linke Ufer der Schelde bevölkerten, als eines der raffiniertesten. Auf einer Höhe von etwa zwei Drittel der Hochhausfassade wird der gleichmäßige Rhythmus der schmalen Fenster von den einstöckigen Wohnungen durch größere Fenster unterbrochen. Hinter diesen befinden sich Maisonette-Wohnungen. Während das Gebäude nach Südosten hin auf das historische Stadtzentrum ausgerichtet ist, befindet sich das zweigeschossige Wohnzimmer der von Studio Okami renovierte Wohnung auf der anderen Seite und ermöglicht hier einen Ausblick auf die industrielle Weite des Antwerpener Hafens im Nordwesten. Die Wohnung befindet sich also an der Grenze zwischen Geschichte und Industrie. Im Inneren wird diese Ambivalenz durch die zeitgenössische Renovierung von Studio Okami erweitert, vielleicht sogar vergrößert. Prägend für das Erscheinungsbild der Wohnung ist der Beton, das Bestandsmaterial, das in seinem rauen Zustand übernommen wurde, ohne etwas davon zu entnehmen. Ein Teil des Betons war bereits bei der ursprünglichen Planung der Innenräume des Gebäudes als Sichtbeton vorgesehen. Studio Okami gingen mit der Renovierung des Appartements allerdings noch darüber hinaus und legten Strukturen frei, die zuvor verborgen waren. Durch die Beseitigung aller Deckschichten wird der grob gegossene Strukturbeton zum Grundmantel des zeitgenössischen Wohnens. Die Narben der Konstruktion werden hier nicht versteckt, sondern ganz im Gegenteil gefeiert. Ein längst vergessenes Stück Schalung bleibt in seiner gemütlichen Ecke an der Decke. Kunstwerke hängen an zufällig platzierten Löchern, die von früheren BewohnerInnen gebohrt wurden.  (...)


 

© Tim Van de Velde

Architecture Fakultät | Aires Mateus

Ort: Tournai , Belgien | Foto: Tim Van de Velde

Die Brüder Aires Mateus haben die Leere als architektonisches Forschungsfeld gewählt. Jedes Projekt wird zunächst als Möglichkeit betrachtet, sich mit dem Innenvolumen auseinanderzusetzen, als Chance, neue Raumorganisationen zu verstehen und damit zu experimentieren. Programm, Standort, Intentionen des Auftraggebers, all diese Gegebenheiten werden mit einbezogen und in der räumlichen Konzeption des Projekts berücksichtigt. In Stadthäusern wie der Casa en Ajuda in Lissabon wird dieses Konzept durch eine komplexe vertikale Erschließung umgesetzt, die die verschiedenen Lebensräume miteinander verbindet. Bei horizontaler ausgerichteten Projekten, wie dem Centre islamique in Bordeaux oder dem in Bau befindlichen Musée de design et arts appliqués contemporains in Lausanne (Mudac), wird mit einer Komprimierung oder Expansion des Leerraums zwischen Boden und Decke gearbeitet. Die Brüder Aires Mateus wenden bei jedem dieser Projekte dieselbe Strategie an: Sie beginnen damit, die Leere zu zeichnen, bevor sie die Grenzen schaffen, die diese spürbar machen. Im Falle der Erweiterung der Fakultät für Architektur der Katholischen Universität Löwen in Tournai war die Aufgabe für die Architekten einfacher. Das architektonische Programm bestand darin, historische Bauten (ein Kloster aus dem 18. Jahrhundert, das später auch als Krankenhaus diente, sowie zwei Industriegebäude) instandzusetzen und miteinander zu verbinden, um einen reibungslosen Betrieb des Ensembles zu gewährleisten. Hier war die Leere bereits gegeben – ein lang gezogener Geländestreifen, der zwei Straßen in einem Vorort von Tournai verbindet – und auch die Grenzen waren schon vorhanden, nämlich die Gebäude, die diese urbane Industriebrache begrenzen: An einem Ende des Baufeldes die Rückseiten des alten Klosters, am anderen die beiden massiven Industrie-Backsteingebäude. (...)


 

© Tim Van de Velde

Senior:innenwohnkomplex Orleanshof | De Vylder Vinck Tallieu & DRDH Architects

Ort: Aarschot, Belgien | Foto: David Grandorge

In Aarschot realisierten de vylder winck taillieu und DRDH drei lange, archetypische Satteldachhäuser mit 35 servicierten Einheiten für Senioren, sowie Speisesaal und Gemeinschaftseinrichtungen im Erdgeschoss. Ein Portiershäuschen komplettiert die Anlage, die öffentliche Räume schafft, sich wunderbar in ihren Kontext fügt und wie ein Dorf funktioniert. Aarschot ist ein kleines Städtchen an der Demer mit etwa 29.000 Einwohnern und ein Eisenbahnknotenpunkt: Es liegt auf der Route Tongeren – Brüssel – Gent – Brügge – Knokke, auch Züge nach Antwerpen und Lüttich passieren am Bahnhof. Insgesamt verkehren etwa 240 Züge pro Tag. Die Besiedlungsgeschichte des Ortes reicht bis in die Römerzeit, von der mittelalterlichen Stadtmauer sind noch Spuren vorhanden. Deutlich überragt der spätgotische Turm der Liebfrauenkirche die Satteldächer der Backsteinbauten in der Altstadt. Sie wirkt auffallend homogen. Trotzdem hat Aarschot gegen das langsame Aussterben seines Zentrums zu kämpfen. Unweit von Bahnhof und Ortskern barg ein aufgelassenes Industrieareal einiges an Potential. An diesem gut gelegenen Bauplatz lobte Vlaams Bouwmeester Marcel Smets einen EU-weiten Wettbewerb für einen Masterplan aus, um neue, belebende Impulse zu setzen. de vylder winck taillieu beteiligten sich im Team mit den britischen DRDH architects. „Wir wollten schon immer etwas mit DRDH machen, sie haben so eine Ruhe in ihren Arbeiten, der wir viel Wertschätzung entgegen bringen“, so Jan de Vylder. (...)

 

 © David Grandorge

Das könnte Sie auch interessieren

Newsletter Anmeldung

Wir informieren Sie regelmäßig über Neuigkeiten zu Architektur- und Bauthemen, spannende Projekte sowie aktuelle Veranstaltungen in unserem Newsletter.

Als kleines Dankeschön für Ihre Newsletter-Anmeldung erhalten Sie kostenlos ein architektur.aktuell Special, das Sie nach Bestätigung der Anmeldung als PDF-Dokument herunterladen können.