Aktivierung von Leerstand
Eine ehemalige Toggenburger Scheune und ein Walliser Stall, heute ein Feriendomizil, firmieren bei Studio Noun unter den Projekttiteln 008 Scheune und 039 Reckingen. Studio Noun sind die Architekten Hendrik Steinigeweg und Philipp Schaefle und deren in Zürich ansässiges Team. Über die gemeinsame Arbeit an verschiedenen Architekturprojekten im Toggenburger Land, speziell dem Gipfelgebäude Chäserrugg des Basler Büros Herzog de Meuron, lernen die beiden Architekten einander kennen und beschließen, ihre Erfahrungshorizonte in gemeinsamer Arbeit zu bündeln.
Toggenburg ist ein Tal, das sich entlang des Flusslaufs der Thur durch den Schweizer Kanton St. Gallen windet. Zwischen Bodensee und Walensee gelegen, säumen in Toggenburg zur Viehzucht kultivierte Wiesen die ersten felsigen Emporkömmlinge der Alpenregion, die so genannten Churfirsten. Die Gegend zeichnet sich durch einen für die Region besonderen Stil aus und unterscheidet sich von anderen Tälern der Schweiz insbesondere durch eine zersiedelte Dorfstruktur. Am oberen Rand eines liebevoll als Hürnli bezeichneten Hanggrundstücks thront ein typisches Toggenburger Wohnhaus im neuen Heimatstil. Am unteren Rand steht eine Scheune. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat die Hausbesitzerin hier ihre Pferde samt Fuhrwerk untergebracht. Nach Übernahme durch die neuen BesitzerInnen konnte die Scheune durch das Engagement von Studio Noun in Kollaboration mit der BauherrInnenschaft reaktiviert und zu einem Erholungs- und Rückzugsraum gestaltet werden. Die Hütte soll dem Bauherrn, einem gebürtigen Nesslauer, als Refugium zur Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln dienen. Durch ihre Zusammenarbeit machen die Architekten verschiedene Themen der Nachhaltigkeit auf, Reaktivierung von Leerstand ist lediglich ein Teilaspekt davon. Sie sprechen über typologische Nachhaltigkeit, über programmatische, ästhetische und ressourcenschonende Nachhaltigkeit und über einen nachhaltigen kulturhistorischen Horizont sowie die Soziologie, die diesem implizit ist.
Anders als der gebürtige Nesslauer Bub, wie der Bauherr in der Projektbeschreibung heißt, sind die beiden Architekten Wahl-Toggenburger. Ihre architektonischen Arbeiten zeugen von intensiver Auseinandersetzung mit der Kulturhistorie der Region und zeigen sich behutsam gegenüber dem Bestand. Was anderswo, angetrieben durch ein überregionales Interesse an der Wertschöpfung dieser entlegenen Täler als Potemkin’sche Kulisse in architektonische Erscheinung tritt, ist hier ein verhandlungsversierter Kompromiss zwischen gesellschaftlichen Umbrüchen und kulturellem Erhalt. Denn die durch demografischen und ökonomischen Wandel obsolet gewordenen Landwirtschaftsbauten drohen zu verfallen oder verlangen nach Reaktivierung durch neue Formen der Nutzung. Dass diese häufig Zweitwohnsitz heißen, mag als Widerspruch zur kultursoziologischen Nachhaltigkeit eines Dorfes erscheinen. Doch ist es der Nesslauer Bub selbst, der aus Verbundenheit zur Scheune beschließt, aus ihr ein Studio zu gestalten – einen Ort, der ihn seine Verwurzelung spüren lässt, aber auch zuversichtlich Einzug in die Gegenwart hält. Ein Balanceakt aus Erhalt und Erneuerung, der nicht der Nostalgie zum Opfer fällt, sondern Baugeschichte weiterschreibt.
Von Aktivierung sprechen die Architekten nicht bloß in programmatischem Zusammenhang. Die architektonischen Eingriffe aktivieren auch die Tektonik des Gebäudes...
Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 9/2024. Der Volltext ist ab Seite 114 zu finden.
Reckingen & Scheune in Bildern: