architektur.aktuell 07/08/1998

architektur.aktuell 07/08/1998

architektur.aktuell

International

Klaus Sill: Provokanter Hausgebrauch / Provocative Domestic Usage

Von/by Klaus-Dieter Weiß
Wohnhäuser im Marschland von Dithmarschen / Schleswig-Holstein und die Umrüstung historischer Bausubstanz zum Wohn- und Bürohaus im Umfeld Berlins, Deutschland

In tausend Welten leben wir heute angeblich und doch hüllt sich diese Vielfalt, jeder Bauherr in seiner Vorort-”Villa” auf Kleinstparzelle, in dieselben erbärmlichen, liebgewonnenen Kulissen – nur scheinbar individualisiert durch die Versatzstücke weltumspannender architektonischer Schildbürgerei, ohne jeden regionalen Hintergrund. Hamsterhäuschen senden kulturelle Notsignale, legitimiert durch behördliche Scheingefechte um städtische Hochkultur (Dachneigung, Zaunhöhe usw.), gleichermaßen unbeeindruckt vom radikal Anderen der Moderne wie der Postmoderne. Mitte der sechziger Jahre sah Alexander Mitscherlich in diesem Phänomen, im Jägerzaun als Symptom, den “Zerfall des öffentlichen Bewußtseins”, die “Verprovinzialisierung unserer Städte”. Heute gilt die heilige Kuh des kleinbürgerlichen Besitzindividualismus als menschenfreundlicher Beleg von Individualität und Pluralismus (s.o.). So dreht der Hamster unentwegt sein Rad und glaubt, er treibe den Fortschritt an. Rechtfertigen muß sich die Kritik in ihrem dekadenten Elitismus, nicht die Massenbewegung der glücklichen Selbstverwirklicher, die ob der Idylle ganz aus dem Häuschen sind. (…)

Essay

Roma Decorum: Gedanken zum Verhältnis von Decorum und Bauorganismus / Reflections on the Relationship Between Decorum and Building Organism

Von/by Thomas Gronegger
ROMA DECORUM
Gedanken zum Verhältnis von Decorum und Bauorganismus

Unser Verhältnis (oder Unverhältnis) zu Ornament und Decorum ist immer noch stark von Positionen der klassischen Moderne geprägt (Gropius, Corbusier, Loos etc.). Bis heute hat das Decorum im Spannungsfeld von Kunst und Architektur noch keine wesentliche bildnerische Neubewertung erfahren. Das Zusammenkommen der freien, autonomen Kunst mit der Architektur wird als “Kunst am Bau” bezeichnet. Das Bezeichnende ist die Bezeichnung -, die Begriffe sind getrennt aneinandergestellt. Demgegenüber steht der tradierte Begriff der “Baukunst”. Er nimmt in sich den Baukörper und die damit in eine untrennbare Wesensverwandtschaft gebrachten, vielfältigsten Erscheinungen von Ornament und Decorum bis hin zum freien Kunstmotiv auf. Der Anspruch der Wesensverwandtschaft ist es, der neben dem Kunst- und Architekturbegriff der Moderne ein neues Feld bildnerischer und architektonischer Aufarbeitung eröffnen kann. Aber bevor wir dieser Behauptung nachgehen, erarbeiten wir zuerst am Beispiel von S. Pietro eine Vorstellung, was ein solcher Anspruch im Bauorganismus bedeuten kann und kehren erst dann wieder zurück zur Moderne, um diese damit differenzierter beleuchten zu können.(…)

Österreich

Artec: UFO auf dem Kuhstall / UFO on the Cow Shed
Von/by Liesbeth Waechter-Böhm
Dachgeschoß und Baderaum in Raasdorf/Marchfeld, Niederösterreich

Das Anwesen von Zita Kern, Bäuerin und Literaturwissenschaftlerin, hat eine geradezu traumhafte Lage: Inmitten der flachen Äcker des Marchfeldes liegt es
wie eine grüne Insel da, versteckt hinter Bäumen. Architektonisch ist dabei nicht sonderlich bemerkenswert, was da in 200 Jahren “gewachsen” ist – Wohnhaus, Stallungen, Scheune. Und renovierungsbedürftig ist es auch. Das Dach des ehemaligen Kuhstalls zum Beispiel war baufällig und mußte abgetragen werden.
Eine willkommene Gelegenheit für die Bauherrin, den lang gehegten Wunsch nach einem großzügigen Arbeitsraum und einem ebensolchen Bad Wirklichkeit werden zu lassen. Bettina Götz und Richard Manahl fiel eine gleichermaßen überraschende wie selbstverständliche Lösung für diese Aufgabe ein. Sie bauten unten, auf der Erdgeschoßebene den Baderaum ein und verwendeten im übrigen das gesamte alte Bauwerk als Sockel – für etwas radikal Neues: für ein körperhaft formuliertes Raumobjekt, das sich oben, auf den alten Mauern festgesetzt hat, nur das Spielbein streckt es – in Form eines Treppenaufgangs, der dem Gebäude vorgesetzt ist – hinunter zum Boden. Das neue Dachgeschoß hat eine völlig glatte Aluminiumhaut, in der die Fixverglasungen über der Treppe und nach Osten bündig sitzen. Nach Norden, zum Garten, schaut eine schmale Terrasse, im Westen, über dem Bad, liegt eine zweite, große Terrasse. Hierher ist auch der Arbeitsraum orientiert.(…)

Martin Flatz: So lose wie möglich / As Loosely as Possible

Von/by Gabriele Kaiser
Bootshaus in Sattendorf am Ossiacher See, Kärnten

Das neue Bootshaus unterscheidet sich von seinem durch eine Eisscholle völlig zerstörten Vorgängerbau nicht nur durch seine weiße Farbe. Obwohl Standort, Widmung und Kubatur des Baukörpers an einer sensiblen (d.h. mit rigiden Schutzbestimmungen bedachten) Uferregion an einem der beliebtesten Kärntner Badeseen zu den Invarianten der Neuplanung gehörten, gelang es Martin Flatz, dem kleinvolumigen Bootshaus im wörtlichen Sinn raumgreifende Qualitäten zu verleihen. Die schlanke Zimmermannskonstruktion mit minimierter Queraussteifung leugnet zwar keineswegs die Verwandtschaft zur Bauweise landläufiger Bootshäuser (und ist in dieser Hinsicht auch nicht luxuriöser als die typologischen Nachbarn), zugleich aber birgt die neue Struktur eine Reihe von Elementen, die zunächst verspielt wirken, die aber im Sinne einer Expansion der räumlichen Qualitäten eine klare funktionale Leistung erbringen.
Im Winter ist das Haus zum Schutz der Boote und der Freizeitmöbel völlig verschlossen, in der Badesaison jedoch, wenn die Benutzer die entfaltbare Box an allen möglichen Ecken und Enden weit aufmachen, offenbart es seinen extrovertierten, weit in die Umgebung ausgreifenden Charakter.(…)

Christoph Pichler & Hannes Traupmann: Haus D. in P. von P/T / House D. in P. by P/T

Von/by Jan Tabor
Wohnhaus mit Büro in Pinkafeld/Burgenland

Das “Wohnhaus mit Büro” befand sich noch im Rohbau, als es 1997 mit dem
begehrten “Architekturpreis der Österreichischen Zementindustrie” ausgezeichnet wurde. Trotzdem war es nicht die dem Preistitel entsprechende (und auf den Rohbaufotos noch besonders auffallende) Verwendung des Sichtbetons, weswegen die Jury unter dem Vorsitz des holländischen Architekten Herman Hertzberger das zweite verwirklichte Einfamilienhaus der Architekten mit dem Hauptpreis auszeichnete. Es war vielmehr die Übereinstimmung der einfallsreichen Disposition von Innen- und Außenräumen mit der einzigartigen Komposition und der Konstruktion des vielfältigen Baukörpers, einer Konstruktion, die vom Prinzip der Faltung zweidimensionaler Flächen zu dreidimensionalen Räumen ausgeht. Das Einfamilienhaus wurde auf einem terrassierten, teils sanft, teils steil abfallenden Osthang einfühlsam in die Umgebung eingebettet. Die Bauherren Gabriele und Wilfried Drexler, Wirtschaftsakademiker, ein Kleinkind, hatten ein Wohnhaus mit “Outdoor Living Standard” verlangt – also ein Haus, das die reizvolle Hanglage am Rand eines Obstgartens und eines Waldes mit weitem
Blick ins Tal des Pinkaflusses nützen und die Natur zum Bestandteil des
Wohnens machen sollte. Die Jury hat die außerordentliche gestalterische
Phantasie, mit der die Architekten ihr Prinzip der “Kontinuität der
Flächenfaltung” konstruktiv und funktionell bewältigt und das Haus in die Landschaft integriert haben, erkannt und gewürdigt.(…)

Georg Schwalm-Theiss & Horst Gressenbauer: Vorkurs zur Integration / A Preliminary Course in Integration

Von/by Liesbeth Waechter-Böhm
Flüchtlingsheim Zinnergasse in Wien, Kaiserebersdorf

Das Gelände einer Kaserne aus der Zeit der Monarchie wird schon seit langem als Wohnstatt für Flüchtlinge genutzt. Zuerst waren es die Ungarn, die 1956 nach Österreich kamen und in den alten Militärgebäuden einquartiert wurden. Später dann waren es die Chilenen, für die auf den ausgedehnten Freiflächen des Areals Baracken errichtet wurden. Und jetzt – ja, wer kann es jetzt wohl sein, der in den neuen
“Flüchtlingsheimen”, die hier in jüngster Zeit entstanden, Unterkunft findet? Die Betonung liegt auf jetzt, also auf einem Zeitpunkt, zu dem Österreichs Grenzen bekanntlich dicht, dichter, am dichtesten zu werden drohen. Die Betonung liegt aber auch auf dem Plural: Denn da gibt es die ambitionierte U-förmige Bebauung von Schwalm-Theiss & Gressenbauer mit ihrer Laubengangerschließung an der “schönen”, der
Süd-Seite, wo auch die kommunikativen und praktikablen Vorplätze vor jeder Wohnung situiert sind und wo mit signifikanten Farbfeldern und graublauen Blechläden vor Fenstern und Türen ein reizvolles Fassadenspiel inszeniert ist, das den bescheidenen Lochfassaden Richtung Norden völlig entgegengesetzt scheint; aber gleich daneben, an städtebaulich ungleich prominenterer Stelle steht schon das nächste und unfaßlich triviale, neue Haus im Auftrag eines anderen Bauträgers.(…)

Pool: Hausbau im Selbstbau / A Self-Built House

Von/by Liesbeth Waechter-Böhm
Um- und Zubau eines Einfamilienhauses in Hornstein, Burgenland

Eine typische Wohngegend auf dem Land, nicht mehr bäuerlich, sondern vollgestellt mit Siedlungshäusern. Der Altbestand aus den fünfziger Jahren, ein Haus mit Satteldach an der Straße, wurde weitgehend im ursprünglichen Zustand belassen, der Zubau schließt so daran an, daß ein definierter Hofbereich entsteht und der neue Trakt im wesentlichen parallel zum Altbau situiert ist. In diesem Hof liegt auch der Haupteingang, eine Durchfahrt zum Garten dahinter ist so dimensioniert, daß man das Auto hier notfalls wettergeschützt einstellen kann. Das zur Straße hin abfallende Grundstück wurde im Hof- bzw. Neubaubereich zwar etwas abgegraben, den Hangverlauf spürt man beim Gang durch das Haus trotzdem noch. Allerdings wurde dieser Grundstückszuschnitt auch geschickt ausgenutzt, denn der Keller des Hauses konnte dadurch natürlich belichtet werden und hat auf diese Weise eigentlich Wohnraumqualität. Vom Eingang und dem Vorraum geht es über eine sanft ansteigende Rampe in den Wohnbereich mit offener Küche hinauf – eine Lösung, die dieser Sequenz des Innenraums angenehme Großzügigkeit verleiht.(…)

Wimmer Schwarz Hansjakob: Die Veröffentlichung einer Industrieanlage / The Unveiling of an Industrial Complex

Von/by Liesbeth Waechter-Böhm
Donaukraftwerk in Wien – Freudenau

Das letzte Donaukraftwerk ist das aufwendigste. Das gilt für das überaus komplexe Verfahren im Vorfeld, für die Gesamtkosten und erst recht für die interdisziplinär – von den Technikern der Donaukraft gemeinsam mit dem Architekten, Wasserbauer und Landschaftsplaner – erarbeiteten Lösung. Am Anfang, vor nunmehr zwölf Jahren, stand ein aufwendiger Wettbewerb – “Chancen für den Donauraum”. Am Ende steht nun ein
Kraftwerk da: aber keine der üblichen Betonburgen, die sich der Umgebung brutal
aufzwingen; auch kein vollständig abgeschottetes Industrieareal. Vielmehr handelt es sich um eine Formation von Gebäuden und technischen Einrichtungen, die durch ein umfangreiches Maßnahmenpaket sowohl für die landschaftliche Einbindung des Bauwerks sorgt, als auch auf seine Veröffentlichung, seine Lesbarkeit zielt. Das Kraftwerk ist gewissermaßen “begehbar”. Dafür wurde ein eigenes Brückenbauwerk errichtet, Fußgänger und Radfahrer können so die gesamte Anlage passieren. Auf einer immerhin einen Kilometer langen, im Flußbett angeschütteten Insel lädt der ebenfalls teilweise öffentlich zugängliche Verwaltungsbau mit dem Informationszentrum zum Besuch ein, und von dort geht es weiter, über eine gedeckte Passage im Bereich der sechs Turbinen und eine offene im Bereich der vier Wehrfelder bis zur Donauinsel. (…)

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