Komaeyu-Sentō, Komaeshi © Ju Yeon Lee

In einem Randbezirk von Tokyo hat Architekt und Möbeldesigner Jo Nagasaka ein traditionelles Badehaus neu konzipiert. Das minimalistische Design vereint jahrhundertealte Tradition mit den Anforderungen von heute.


Japanische Shinto-Priester reinigten vor 1.200 Jahren Körper, Geist und Seele im Dampf einer kleinen Hütte – befreiten sich und die Gläubigen von negativen Energien. Aus dem Zeremoniell entwickelten sich ein paar hundert Jahre später die ersten Badekabinen in buddhistischen Tempeln. Zunächst nur für Glaubenshüter, dann für Kranke und danach für das allgemeine Volk. Der Raum war klein und ohne Fenster. Männer und Frauen kauften eine Ration heißes Wasser, zwängten sich nackt durch ein Schlupfloch, und da sie sich in der Dunkelheit nicht sehen konnten, hüstelten sie unentwegt, um ihren Waschplatz kundzutun. Im 17. Jahrhundert entstanden dann Hallen aus Holz mit Wasserbecken, Fenstern und „Yuna“. Letztere, die „Heißwasserfrauen“, halfen für ein Entgelt beim Einseifen und Abschrubben. Das hat zur Beliebtheit der öffentlichen Bäder beigetragen. Um dem Sittenverfall vorzubeugen, wurden sie jedoch zeitweilig verbannt, nach Protesten aber wieder zugelassen.

Komaeyu-Sentō, Komaeshi © Ju Yeon Lee

Die Funktion des Bads als Sozialeinrichtung haben Wien und Japan gemeinsam.
© Ju Yeon Lee

Sprung vorwärts. Anderes Jahrhundert. Andere Kultur. In Wien erföffnete 1887 das erste öffentliche Bad, um Seuchen und Krankheiten vorzubeugen, denn die Wohn- und Hygieneverhältnisse waren in der Donaumetropole katastrophal. Eine eigene Waschgelegenheit zu Hause kannten nur Privilegierte. Noch im selben Jahr – da hatte die japanische Badekultur bereits 1.000 Jahre Vorsprung, stellten sich im Volksbad in der Mondscheingasse 78.000 Menschen unter die Dusche – Wannen und Becken gab es noch keine. Und da das Heißwasser oft nicht ausreichte, tropfte es nur zögernd aus dem Brausekopf. So entstand im Volksmund der Ausdruck „Tröpferlbad“. Diese Funktion des Bads als Sozialeinrichtung haben Wien und Japan gemeinsam. Besonders in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren Tröpferlbäder aus Wien kaum wegzudenken, da viele Wohnungen ausgebombt waren. Zudem dienten sie, wie auch heute noch, als Orte der Kommunikation und für den Zusammenhalt lokaler Gemeinschaften. Womit die interkulturelle Überschneidung aber auch schon endet.

Komaeyu-Sentō, Komaeshi © Ju Yeon Lee

Die grellgelben Hocker und Schüsseln vor den Waschanlagen fallen gleich auf und erinnern an früher.
© Ju Yeon Lee

Haben in Wien heute neun Tröpferlbäder überlebt, sind es in Japan tausende, obwohl fast alle Wohnungen mit Badezimmern ausgestattet sind. Einer der Gründe für die Vielzahl ist die „Showa-Zeit“. Denn Kaiser Hirohitos Regierungsperiode (1926–1989) erlebt derzeit eine Renaissance und ist Symbol für den Aufstieg Japans zur Weltwirtschaftsmacht. Sie ging einher mit Innovationen wie Walkman, Quarzuhr, Taschenrechner, LED-Licht und Hochgeschwindigkeitszug. Damals herrschte Aufbruchsstimmung, die japanische Welt war in Ordnung, voll Hoffnung und Elan. Viele Bäder aus dieser Zeit haben überlebt. Ihr Baustil und Innendesign wecken deshalb bei älteren JapanerInnen nostalgische Gefühle. Den Jungen wiederum dient das Sentō, so nennt man das öffentliche Heißbad, als coole Lifestyle-Ergänzung, dank der sie in eine analoge Epoche eintauchen können, wie sie es auch mit Hilfe von Plattenspielern und LPs machen. Mit „cool“ meinen sie „authentisch“. Für sie ist das traditionelle Sentō eine Antiwelt zum digitalen Universum, für die Alten hingegen sentimentaler Fluchtort, an dem sie in einer Vergangenheit schwelgen können, als China Nippon noch nicht überrundet hatte, die Zukunft gewiss erschien und der Arbeitsplatz gesichert war.

Manchmal ist der Sentō-Eingang immer noch dem Stil alter Tempel nachempfunden. In Kleiderkästen stecken hölzerne Schlüssel, aus Lautsprechen dringen Schnulzen der 1950er-Jahre und auf dem Miniaturaltar offeriert man immer noch Salz und Früchte. Daneben hängen signierte Fotos von Filmstars und Werbeplakate vom Friseur, Installateur und Sakehändler nebenan – alle längst verstorben. Auf einem Podest beim Eingang sitzt die Mutter oder der Vater des Sentō-Familienbetriebs, kassiert Eintrittsgeld, hat Einblick zur Frauen- und Männerabteilung. Für AusländerInnen, die sich dort hinverirren, gibt es handgeschriebene Hinweise auf Englisch, man solle sich vor dem Bad gründlich waschen. Die kitschige Wandmalerei vom Fujiyama darf natürlich auch nicht fehlen...

Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 10/2023. Der Volltext ist ab Seite 90 zu finden.


Das Komaeyu-Sentō in Bildern:

Komaeyu-Sentō © Ju Yeon Lee

Mit neuen Konzepten und Geschäftsmodellen versucht man, Sentōs am Leben zu erhalten.
© Ju Yeon Lee

Komaeyu-Sentō © Ju Yeon Lee

Auch heute noch fördern Sentōs den Zusammenhalt lokaler Gemeinschaften.
© Ju Yeon Lee

Komaeyu-Sentō © Ju Yeon Lee

Im Eingangsbereich zieht sich der Fujiyama als minimalistische Mosaikzeichnung zur Decke.
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Komaeyu-Sentō © Ju Yeon Lee

Traditionelle Elemente und gebrauchte Materialien in einem futuristischen Mashup.
© Ju Yeon Lee


 


 

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