Modern Classics 06

Der Weg zur (abstrakten) Form bei Otto Wagner & Co.

Josef Chochol, Mietshaus in Prag, 1911-13 © WikiCommons

Das Jahr 1900 brachte die endgültige Abkehr von historischen Formen. Und die Erfindung der universellen „Nullform“ des Quadrats in Architektur und Design der Wiener Avantgarde. Wie kam es dazu?


 

Die mitteleuropäische Moderne entwickelte im späten 19. Jahrhundert durch die Emanzipation vom historischen Formvokabular „zeitrichtige“ architektonische Ausdrucksformen für kollektive und bald auch für individuelle Identitätsstiftungen. Die massenhaft industriell hergestellten Bauteile in historisierenden Stilformen (Fassadenkeramik, Eisenelemente, Putzschablonen, Metallbeschläge) hatten sich schon durch ihre ökonomisch und technisch bedingte stetige Vereinfachung immer mehr den funktionalen Anforderungen der maschinengetriebenen Großstadt angepasst. Jenseits des reinen Ingenieurbaus, den Otto Wagner, der große Pionier der Moderne in Österreich, noch als „unsympathisch“ empfand, konnten diese Elemente am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich auch bei alltäglichen urbanen Bauaufgaben unschwer durch neue (Elementar-) Formen ersetzt werden. Dieser Prozess kann beispielhaft in Otto Wagners Wohn- und Infrastrukturbauten in Wien (Mietshäuser, Banken, Stadtbahn, Donaukanalregulierung) mit ihrer stetig reduzierten, immer flächigeren und abstrakteren Gebäudeornamentik nachvollzogen werden. Wagner hatte schon in den 1870er Jahren begonnen, historische Formen punktuell durch elementar-geometrische Konstruktions- und Dekorelemente zu ersetzen, etwa durch Gußeisensäulen mit stark vereinfachten Kapitellen aus flachen Bändern und Wülsten oder durch simple Kreisscheiben, neutrale Rechteckprofile und ähnliche Flächenformen an den Fassaden, die schon durch ihre reduzierte Plastizität zu einem immateriellen Charakter drängten.

Die grundsätzliche Möglichkeit der Gestaltung einer urbanen Gebäudehülle ausschließlich aus dekorlosen tektonischen Elementen bewies Otto Wagner 1882 mit der schmucklosen Hoffassade der Wiener Länderbank.

Otto Wagner, Hoffassade der Länderbank in Wien, 1882

Otto Wagner, Hoffassade der Länderbank in Wien, 1882

Möbel von einem viereckigen Planeten, der von vierschrötigen Bauern bewohnt ist.

Ludwig Hevesi

 

Bei Wagner hatte die „Kunstform“ noch die positiven kollektiven Eigenschaften der gesamten „modernen Menschheit“ zu repräsentieren und nicht bloß jene einer ethnischen Gruppe oder gar eines einzelnen Menschen: „Alles modern Geschaffene muß dem neuen Materiale und den Anforderungen der Gegenwart entsprechen, wenn es zur modernen Menschheit passen soll, es muß unser eigenes besseres, demokratisches, selbstbewußtes, unser scharf denkendes Wesen veranschaulichen und den kolossalen technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften sowie dem durchgehenden praktischen Zuge der Menschheit Rechnung tragen – das ist doch selbstverständlich!“ An anderer Stelle konzediert er wenigstens die Legitimität regionaler Ausdrucksweisen, die jedoch rein „logisch“ aus Material und Tradition motiviert sei. Otto Wagners Meisterschüler an der Akademie der bildenden Künste in Wien stammten aus allen Teilen der Habsburgermonarchie und kehrten nach dem Studium in ihre Heimatländer zurück, um das Gelernte breit anzuwenden. Seine Doktrin wurde von ihnen nun auch auf die Entwicklung individueller Ausdrucksformen angewendet.

Die um 1900 explosionsartig vermehrten Individualisierungsstrategien der Wagner-Schüler waren schon im „Kunstform“-Prinzip des Meisters programmiert: Dieses Prinzip schuf in seiner ästhetischen Dimension eine Möglichkeit der Individualisierung, weil es längst keine allgemein verbindliche, normative Ästhetik mehr gab: Der Schönheitsbegriff war in der westlichen Zivilisation schon im 16. Jahrhundert irreversibel relativ geworden und konnte fortan individuell interpretiert sowie rezipiert werden.

Otto Wagner, Baukunst, 1895

Otto Wagner, Baukunst, 1895

Wagner selbst gab keine direkten Antworten auf die entscheidende Frage, ob die aus der Funktion entwickelten modernen „Kunstformen“ von Architektur und Gebrauchsgegenständen über den kollektiven Nutzen hinaus noch weiter individualisiert werden dürfen – und damit auch „Identitäten“ von Entwerfern oder Nutzern ausdrücken können. Er distanzierte sich allerdings auch nicht von jener Künstlergruppe um einige seiner Schüler, die diese Individualisierung im „Jugendstil“ auf breiter Basis realisierten.

Neben Wagners funktionalem Weg von der „Zweckform“ zur „Kunstform“ waren auch noch formale und kulturelle Faktoren ausschlaggebend für die Etablierung jener elementaristischen Ausdrucksweisen, die sich besonders in den böhmischen Ländern unter den einheimischen Wagnerschülern (Franz Krasny, Jan Kotera, Josef Chochol, Pavel Janak...) und unter ihren Kollegen aus Wien (Josef Hoffmann, Leopold Bauer…) sowie anderen Teilen der Monarchie (zB Josef Plečnik aus Laibach), aber auch bei vielen tschechischen Architekten mit Ausbildung in Prag reich entfalten konnten.

Ausstellung "Formkunst" im Belvedere, Wien 2016 © Belvedere

Ausstellung "Formkunst" im Belvedere, Wien 2016 © Belvedere

Alexander Klee wies 2016 in der Ausstellung „Formkunst“ des Wiener Belvedere auf den Zeichenunterricht in der Schulbildung des Habsburgerreichs als wichtige formale Quelle eines abstrakten Elementarismus in der Kunst hin. Demnach sei die Entwicklung abstrakter Malerei etwa bei František Kupka oder die flächige Geometrisierung der Wiener Secession schon in der Schulzeit dieser Künstler angelegt gewesen, die durch die Herbart-Pädagogik mit der kreativ nutzbaren Trigonometrie bestens vertraut waren.

Eine wichtige kulturelle Inspiration des „Elementarismus“ der Avantgarde im Habsburgerreich lieferte das englische Vorbild. Die Ressourcen des Kolonialreichs, die frühe Industrialisierung und die lange demokratische Tradition Englands hatte jene gediegenen Lebensweisen und jene perfektionierte Wohnkultur hervorgebracht, die der gesamten westlichen Welt als Role Model moderner Zivilisation diente. Auch die Otto Wagner-Schüler konnten sich diesem Einfluss nicht entziehen, der durch die Berufung der anglophilen Direktoren des Wiener Museums für Kunst und Industrie (Arthur von Scala, 1897-1909) und dessen einflussreicher Kunstgewerbeschule (Felician von Myrbach, 1899-1905) auch von offizieller Seite forciert wurde. Josef Hoffmann war bereits drei Jahre nach seinem Studienabschluß bei Wagner 1899 als Professor an die Kunstgewerbeschule berufen worden und hatte Beispiele der modernen englischen Wohnkultur in der weit verbreiteten, 1893 von Charles Home gegründeten Londoner Zeitschrift „The Studio“, die mit Amelia Sarah Levetus ab 1902 auch über eine Wiener Korrespondentin verfügte, und bei Besuchen beim Münchner Verleger H. Bruckmann kennengelernt, der Möbel von Charles Rennie Mackintosh besaß.

So lag es nahe, die avancierten englischen Architekten und Designer auch für die Wiener Secession zu gewinnen, zu deren Kernprogramm eben jene Vernetzung mit Gleichgesinnten aller europäischen Länder gehörte. Am 20. April 1900 bat Hoffmann Direktor Felician von Myrbach, in London die von Charles Robert Ashbee (1863-1942) gegründete „Guild and School of Handicraft“ (1888-1907) zu besuchen, um von Ashbee Exponate für die Herbstausstellung der Secession zu akquirieren. Für die Beteiligung der modernen schottischen Designer an dieser einflussreichen VIII. Ausstellung der Wiener Secession bat er den befreundeten Textilindustriellen Fritz Wärndorfer, mit dem er 1903 die Wiener Werkstätte gründen sollte, nach Glasgow zu Mackintosh zu reisen.

Bericht von A. S. Levetus über Josef Hoffmanns Palais Stoclet in "The Studio"

Bericht von A. S. Levetus über Josef Hoffmanns Palais Stoclet in "The Studio"

Diese höchst ambitionierten Bemühungen resultierten in einem durchschlagenden Erfolg: Presse, Publikum und Künstler fanden die zahlreichen Exponate von Ashbee, Macintosh, Margaret MacDonald, James Herbert und Frances Mac Nair durchaus sensationell – Ashbees rektangulärer Stil wirkte etwa auf den Secessions-Vorkämpfer Ludwig Hevesi, „als käme er von einem viereckigen Planeten, der von vierschrötigen Bauern bewohnt ist.“

Ver Sacrum 1900, S 377

Ver Sacrum 1900, S 377

Dieser dritte Baustein für die finale Legitimierung und breite Anwendbarkeit einer rein elementaristischen, abstrakten Formensprache im Dienste der Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten ließ bei den Wagner-Schülern die letzten Dämme mimetischer Formensprachen brechen. Fortan war klar, dass das unendliche Repertoire abstrakter Formen (zu denen man auch geometrisch abstrahierte und in Flächenmustern vervielfältigte Resonanzen verschiedenster Alltags- und Naturobjekte zählen kann) für jede Entwurfsaufgabe und jeden Klienten individuell neu geformt und/oder rekombiniert werden konnte. Die Abstraktion hatte den Künstlern jenes langgesuchte, mächtige Werkzeug in die Hand gegeben, das traditionelle kollektive Identitätsmuster und gesellschaftliche Rollen endgültig zugunsten einer radikalen und unbeschränkten Selbstverwirklichung des Einzelnen überwinden konnte. Auch auf der kollektiven Ebene schuf diese moderne Individualisierung mittels elementaristischer Gestaltungsstrategien eine neue, radikal befreiende Identität – nämlich die des modernen, urbanen Kosmopoliten, dessen Herkunft aus traditionellen und repressiv erlebten ethnischen, nationalen und religiösen Lebensweisen irrelevant oder gar vollständig ausgelöscht wurde.

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