THE LINE, Saudi Arabien © NEOM

Zwei verspiegelte, parallel angeordnete Wände, die mitten im Nirgendwo aus dem Wüstensand wachsen, dazwischen begrünte Räume und ein belebtes städtisches Treiben. Die Idee der Bandstadt, die der Spanier Arturo Soria y Mata bereits im Jahr 1882 entwickelte, wird vom Projekt The Line auf ganz neue Art und Weise interpretiert. So sieht die Zukunft des Wohnens und Lebens aus, zumindest in Saudi-Arabien. Von oben betrachtet ein einfacher Strich in der Landschaft, ein Einschnitt mitten in die Wüste, durch die Berge bis hin zum Roten Meer.


Zwischen städtischem Trubel fällt der Fokus auf die Protagonistin. Traurig lässt sie vor der Kulisse einer grauen, tristen Betonwüste ihren Kopf hängen, bevor ein strahlendes Licht in der Ferne sie aufblicken lässt. Magisch wird sie von ihm in den Bann gezogen und beginnt in Richtung seines Ursprungs zu laufen, vorbei an Autos, deprimierenden Gebäuden und asphaltierten Straßen. Ein verspiegeltes, rotierendes Portal scheint das Licht auszustrahlen und reflektiert es in alle Richtungen mit dem Versprechen, einen Ausweg aus der trüben, uns bekannten Stadt zu ermöglichen.

Ohne lange zu überlegen, lässt sich die Protagonistin durch das Portal in eine uns noch fremde Welt, in der alles besser zu sein scheint, hineinkatapultieren. Schwerelos fliegt sie vorbei an paradiesischen Grünflächen, berührt klares glänzendes Wasser und ist umgeben von einer futuristischen Architektur, wie wir sie nur aus Computerspielen und Filmen kennen. Autos sucht man hier vergebens, die Menschen strahlen Sorglosigkeit und Zufriedenheit aus und auch die Protagonistin scheint endlich glücklich. Sie ist angekommen. „The Line. New wonders for the world.“ Mit diesem Slogan endet NEOM das Werbevideo für ihre visionäre, städtebauliche Megavision in Saudi-Arabien. Lassen wir diese soeben beschriebene Welt der Zukunft für einen Moment hinter uns und kommen wir zurück auf den Boden der Tatsachen, um die Fakten für sich sprechen zu lassen.

THE LINE, Saudi Arabien © NEOM

THE LINE - futuristische Architektur, wie wir sie nur aus Computerspielen und Filmen kennen.
© NEOM

Call it what you want, but it’s a place that’s gonna change the way we live on this planet.

NEOM

Das verspricht das Megaprojekt NEOM, das insgesamt vier visionäre Hightech-Städte umfasst: Sindalah, ein Luxusresort auf einer Insel im Roten Meer, Oxagon, die größte schwimmende Struktur als Zentrum für fortgeschrittene Industrien, Trojena, ein Bergparadies für SkifahrerInnen und alle, die es noch werden wollen (laut Werbevideo verläuft eine Skipiste bergauf und am Ende fliegt man mit Höchstgeschwindigkeit bis ins All, also be ready, be prepared für NEOMs selbsternannte „Journey to new heights“), und abschließend runden wir das Gesamtpaket ab mit The Line, der laut NEOM klimaneutralen, smarten und zukunftsvisionären Vorzeigestadt. Letztere wollen wir etwas genauer ins Visier nehmen.

170 Kilometer lang, 500 Meter hoch und 200 Meter breit. Das sind die Dimensionen der neuen Stadt, deren erste Bauphase in nur wenigen Jahren bis 2030 fertiggestellt werden soll. Auf einer geringen Grundfläche von nur 34 Quadratkilometern sollen bis zu 9 Millionen Menschen ein neues Zuhause finden. Autos und Straßen wird man hier vergeblich suchen, da Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen in den Vordergrund gestellt werden. Aber NEOMs Versprechen gehen noch viel weiter: Die gesamte Stadt, inklusive der Industrie, soll zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden, und eine großzügige Integration von Natur und Freiflächen soll eine exzellente Luftqualität ermöglichen. Um mikroklimatische Räume zu gewährleisten, wird die Umgebung sorgfältig gestaltet, sodass ein optimales Gleichgewicht zwischen Sonnenlicht, Schatten und natürlicher Belüftung garantiert wird.

Und das Leben in dieser neuen Stadt? Alles, ja wirklich alles, soll für die BewohnerInnen innerhalb von nur fünf Minuten zu Fuß erreichbar sein. Der öffentliche Verkehr soll es ermöglichen, die 170 Kilometer lange Linie innerhalb von nur 20 Minuten zurückzulegen. Und das Sahnehäubchen auf der Kirschtorte? Moderne, künstliche Intelligenz wird die automatisierten Dienstleistungen optimal unterstützen. NEOM verspricht uns eine bessere Zukunft, und die ganze Welt schaut zu, während sie die Wüste umgraben. Beschäftigt man sich jedoch intensiver mit dem Projekt, fällt schnell auf, dass es, während einige The Line hochleben lassen, auch Kritik hagelt, die das Projekt moralisch und ethisch hinterfragt. Neben kritischen Presseartikel häufen sich auch unter NEOMs zahlreichen Werbevideos Kommentare wie etwa der folgende: „A GIANT mirror in a hot and bright area. What could go wrong?“

THE LINE, Saudi Arabien © NEOM

Warum diese überdimensionierte Spiegelwand?
© NEOM

Was kann denn nun alles bei diesem Vorzeigeprojekt schieflaufen?

Stellen wir, um eine Antwort zu finden, ein paar simple Fragen in den Raum: Warum diese überdimensionierte Spiegelwand? Vielleicht war die Vision hinter diesem Design, die Architektur mit der Umgebung verschmelzen zu lassen, um sie optimal in die Wüstenlandschaft zu integrieren. Das Einzige, das allerdings schmelzen und verbrennen wird, ist die umliegende Landschaft. Wir lernen das Reflexionsgesetz bereits in jungen Jahren...

Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 7-8/2023. Der Volltext ist ab Seite 58 zu finden.


 

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