Casa Giuseppina und Casetta © Dario Bosio

Verstreut über die Schweiz finden sich kleinere Baustellen, auf denen eine neue Denk- und Arbeitsweise in der Architektur aufblüht. Themen, die immer wieder auftauchen, sind sorgfältiges Bauen im Bestand und das Aushandeln anti-autoritärer Organisationsstrukturen. Ein Beispiel wird hier portraitiert.


squadra (ital. Team/Gruppe) arbeiten seit 2020 als Architekturkollektiv. Sie haben keinen Sitz, sondern Tische verstreut zwischen Schwamendingen, Zürich-Altstetten, Barcelona, Basel und Bellinzona. Um die Unabhängigkeit der Selbstständigkeit zu bewahren und dennoch auf die Unterstützung und Möglichkeiten eines Büros zurückgreifen zu können, arbeiten sie im Kollektiv. Anfragen an einzelne ArchitektInnen werden miteinander geteilt, aber auch Verantwortung und Gestaltungshoheit für Projekte, Infrastruktur und Werkzeuge. Das funktioniert nicht zuletzt über Zwischenmenschliches, wie Lian Stähelin erklärt: „Es geht auch darum, gemeinsam eine gute Zeit zu haben und Erfahrungen zu teilen. Auch wenn wir alle irgendwo ambitioniert sind, überwiegen die lockeren Momente.“

Casa Giuseppina vorher © squadra

Ein Gegenüberstellen des vorherigen mit dem aktuellen Zustand des Rustico zeigt den feinfühligen Umgang mit dem Bestand.
© squadra

Neben diesen Aspekten verbindet squadra auch das Interesse am Selbstbau, „weil sich Planung und Umsetzung auf eigenen Baustellen direkt verschmelzen lassen“. Bereits vor 2020 fanden sich viele der Mitglieder von squadra zwischen Plänen, Mörtel und Stichsägen, unter anderem auch in einer Ruine im Valle Onsernone, einem der abgelegensten Täler der italienischen Schweiz. Eine Straße schlängelt sich den Hang entlang hoch, Felsen ragen in die engen Kurven hinein. Das Tal besteht heute vor allem aus Kastanienbäumen, verfallenen Rustici (kleinen zwei- bis dreistöckigen Steinhäusern) und strahlend weißen Fassaden neuer Ferienhäuser. Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit und der steilen Hänge zählte die Region zu den ärmsten der Schweiz und lebte lange nur von Kleinstlandwirtschaft, Kastanienmehl und Flechtarbeit. Das Rustico, überall in den ländlichen Regionen des Kantons Tessin zu finden, weckt heute romantische Fantasien von StadtbewohnerInnen – allen voran Menschen aus der wohlhabenderen Deutschschweiz, die etwas Wärme und Sonne suchen.

Die traditionellen Steinhäuser, mit kleinen Fenstern, dicken Mauern und fehlender Isolation, sind eher düster und im Winter häufig feucht. Die oftmals bereits vor Jahrzehnten vom Deutschschweizer Mittelstand erworbenen Häuser säumen das Tal, manche wurden ausgehöhlt und mit viel Mörtel und Beton gefüllt, andere bröckeln auseinander. Es ist ein schmaler Grat zwischen musealer Konservierung der archaischen Bausubstanz, die schon lange ihren Zweck eingebüßt hat, und unverhältnismäßigen Eingriffen, deren Ergebnisse oft Jahrzehnte wie verlorene Marshmallows in der Gegend stehen.

Fiume Isorno © Dario Bosio

Stein als regionales Material dient als Baustoff für die Rustici. Steinvorkommen gibt es etwa am nahe gelegenen Fluss Isorno.
© Dario Bosio

squadra renovierte in Mosogno di Sotto (dt. unteres Mosogno, ein Weiler am Hang zwischen Fluss und Straße) zwei Rustici: die Casa Giuseppina und Casetta. Mosogno di Sotto ist, wie viele andere Ortschaften im Tal, nur zu Fuß erreichbar. Eine Treppe mit etwas mehr als 300 Stufen führt von der Straße hinunter zu den Häusern. In diesem Tal schrieb Max Frisch vor über 40 Jahren „Der Mensch erscheint im Holozän“, eine Erzählung über einen älteren Mann, der langsam senil wird und bei einem Sturm von der Realität und der Zivilisation abgeschnitten wird. Hubschrauber waren schon damals eine ständige Tonspur, sie lieferten den verstreuten Bauunternehmen im Tal Steine, Sand und Kalk. Lauscht man auf der zwischen Kastanienbäumen eingebetteten Schieferterrasse, die langsam den Hang hinuntergleitet, schneiden Helikopterflüge auch heute noch die warme Luft wie Watte.

Die Casetta, eine ehemalige Mühle, war bereits teilweise zerfallen, als squadra sich an den Umbau herantasteten. Ziel war es, möglichst mit dem Bestand zu arbeiten und so wenig wie möglich von außerhalb hinzuzufügen, da alle Baumaterialen hergetragen oder -geflogen hätten werden müssen. So entwickelte sich ein Baustil, der sich an dem vor Ort Vorgefundenen orientierte...

Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 11/2023. Der Volltext ist ab Seite 116 zu finden.


Die Casa Giuseppina und Casetta in Bildern:

Casa Giuseppina und Casetta © Dario Bosio

Rustici sind traditionelle Steinhäuser im ländlichen Raum des Schweizer Kantons Tessin.
© Dario Bosio

Casa Giuseppina und Casetta © Pierre Marmy

Der Baustil der ArchitektInnen von squadra orientiert sich an dem Vorgefundenen...
© Pierre Marmy

Casa Giuseppina und Casetta © Pierre Marmy

... so wurde ein eingestürztes Dach zu einem hohen Raum weiterentwickelt...
© Pierre Marmy

Casa Giuseppina und Casetta © Pierre Marmy

... und ein vorhandenes gemeißeltes Lavabo zu einer Küchennische umfunktioniert.
© Pierre Marmy

Casa Giuseppina und Casetta © Dario Bosio

Unter dem Dach findet nach der Renovierung eine Schlafmöglichkeit Platz.
© Dario Bosio

Casa Giuseppina und Casetta © Dario Bosio

Das traditionelle Steinhaus mit kleinen Fenstern und dicken Mauern ohne Isolation.
© Dario Bosio


 


 

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