Der Wienerwandel
Die Wiener ÖVP hatte im Frühjahr 2023 offenbar recht viel Zeit und entschloss sich, diese mit dem Erstellen kleiner Filmchen am Wiener Brunnenmarkt und Viktor-Adler-Markt zu verbringen. Die Intention: diese beiden Orte als Beispiele fehlgeleiteter Integration zu brandmarken und altbekannte Wien-Vorurteile abzuschöpfen. Die Reaktionen waren verheerend. Auch das Wiener Marktamt reagierte mit sachlicher Klarheit und korrigierte die von keinerlei Bemühung um Faktizität aufgestellten Behauptungen: Die Stände würden nach der bundesgesetzlichen Gewerbeordnung vergeben, dabei spiele die Nationalität keine Rolle. Überdies wären die Wiener Märkte ohne das Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund schon seit langem zugrunde gegangen, weil sich Einheimische den hohen Arbeitsaufwand kaum noch antun wollen.
Sieht man die Begegnung mit dem Fremden und die Aushandlung von Rahmenbedingungen des Zusammenlebens als Definition dessen, was Stadt ausmacht, kann man die immer wieder aufkommenden Attacken gegen das Multikulturelle ganz ungeachtet der Parteipolitik als Angriff auf die Stadt an sich deuten. Auch Begriffe wie „Osten“ oder „Balkanroute“ werden oft als Buzzwords instrumentalisiert, um schwelende, archaische Ängste der österreichischen Gesellschaft abzurufen. Dabei formte sich die Großstadt Wien seit jeher aus einem Amalgam von Personen und Kulturen aus Süd-, Mittel- und Osteuropa, von Galizien bis zur Krajina, vom Friaul bis Böhmen. Die Balkan-Route wurde schon immer in beide Richtungen rege begangen und befahren und hinterließ auch architektonische Spuren. Etwa in den Bauten österreichischer Architekten an der Adria und im Werk der Wiener Architekturschaffenden, die während der Balkankriege 1992–95 nach Österreich kamen.
Wie Fabian Wallmüller und Pelin Sökmen in ihrem Vorwort zum 2020 erschienenen Buch „Wien, Arrival City“ festhielten, hat sich der Anteil von WienerInnen mit Migrationshintergrund in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt. Gleichzeitig ist die Segregation, trotz immer wieder vorgebrachter Vorurteile von Ghettos oder gar No-go-Zones, gering ausgeprägt – auch dank der auf soziale Nachhaltigkeit setzenden Wohnbaupolitik Wiens. Die ÖGFA hat für ihr Jahresprogramm 2024 den Schwerpunkt „Migrationen – Räume in Bewegung“ gewählt. Durchaus auch in Reaktion auf obengenannte anti-städtische Ressentiments und Vorurteile soll dabei der Migrationsbegriff aus der assoziativen Zwangsjacke des Problematisierens befreit und als das betrachtet werden, was er ist: als Kontinuum der Menschheits- und somit auch der Architekturgeschichte. Gerade Wien eignet sich als Untersuchungsfeld für diese Beweisführungen...
Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 5/2024. Der Volltext ist ab Seite 42 zu finden.