MEDIA REVIEW

Gesellschaftliche Relevanz der räumlichen Gestaltung

Die Debatte um die soziale Bedeutung von Architektur und Stadtplanung ist so alt wie die Architektur selbst, doch sie unterliegt Konjunkturen – einmal dreht sich der Wind stärker in Richtung Autonomie, dann wieder mehr zur „Einmischung“. Im Folgenden einige aktuelle Publikationen zu diesem Thema. Aktuelle Herausforderungen wie Nachhaltigkeit und Beteiligung deuten weg von der Selbstbezüglichkeit.


Eine Auswahl von Robert Temel

Die schnörkellose Argumentation für die enorme Bedeutung, die räumliche Entscheidungen Einzelner für uns alle haben, liefert der Klimaökonom Gernot Wagner in seinem Buch Stadt Land Klima. Wagner stammt aus Amstetten und lebt in Manhattan, er hat keinen Führerschein wie etwa die Hälfte aller New Yorker. Was ihn zur Besonderheit macht: Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in einem 70 Quadratmeter großen Apartment statt in Suburbia, wie das die meisten besserverdienenden Familien in den USA tun. Wagner beschreibt das Leben in der Stadt und am Land als beim Klimaschutz gleichwertig, in beiden Fällen sind die CO2-Emissionen vergleichsweise gering. Viel höher, nämlich doppelt so hoch, sind sie im suburbanen Raum, weil man dort täglich viel weitere Strecken zurücklegt, vorwiegend per motorisiertem Individualverkehr; und weil man viel mehr Fläche zum Wohnen verbraucht. Die entscheidenden Faktoren sind Reichtum und Dichte: die Stadt ist reich und dicht, das Land arm und wenig dicht, Suburbia verbindet zwei CO2-fördernde Faktoren, Reichtum und geringe Dichte. Laut Wagner liegt der Klimaschutz deshalb in der Stadt. Auch wenn manche Städter heute wenig klimaschonend leben: Sie könnten es prinzipiell einfach tun. Das ist in Suburbia nicht möglich, wie soll man dort die nötigen Strecken ohne Auto zurücklegen? Das ist der Lock-in-Effekt – Lebensentscheidungen, die sich kaum ändern lassen. Stadt ist dem gegenüber resilient, wenn heute die U-Bahn nicht fährt, nehme ich einfach das Rad.

 

 

Gernot Wagner
Stadt Land Klima. Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten
200 Seiten, deutsch
Brandstätter Verlag, € 22,-

Doch natürlich ist auch die Stadt beim Klimaschutz bei weitem noch nicht dort, wo sie sein müsste. Was das konkret bedeutet, beschreibt der Planungsdirektor Thomas Madreiter für Wien in dem Band Die nachhaltige Stadt. Er sieht, darin Wagner vergleichbar, Städte als Laboratorien des Wandels. Der globale Trend der Urbanisierung ist somit eher Chance als Problem. Madreiter propagiert das Modell der Smart City, allerdings nicht in der üblichen technologiezentrierten Sicht, sondern als umfassendes Konzept, das soziale Ziele in den Blick nimmt. Er beschreibt das Stadtwachstum Wiens während der letzten Jahrzehnte, das allerdings auch zum Wachstum des Speckgürtels beitrug, unter dessen Effekten die Stadt leidet. Madreiter erklärt, wie in der Stadt Grünraum geschützt, Bodenpolitik betrieben und preiswerter Wohnbau gesichert wird. Er erläutert den Fokus auf den Raumbedarf für Arbeitsplätze und Nutzungsmischung, die Herkulesaufgabe der Umgestaltung der urbanen Mobilität und die Flexibilität von Planung. Auch er meint: Die Stadt ist die Lösung. Das stimmt zweifellos, und in vielen Bereichen hat Wien das auch bereits bewiesen. Gerade im Mobilitätssektor sind notwendige Schritte aber noch ausständig.

 

 

 

 

 

Thomas Madreiter, Clemens Horak, Nils Peters
Die nachhaltige Stadt. Städte als Laboratorien des Wandels
64 Seiten, deutsch
Picus Verlag, € 14,-

Doch soziale Relevanz bedeutet nicht allein Klimaschutz, wie Ursula Spannbergers Publikation Raum wirkt. beweist. Sie beschreibt, ausgehend von ihrer beruflichen Entwicklung, wie sie über lange Jahre der Praxis ein architektonisches Entwurfsmodell entwickelte, um möglichst gut auf die Bedürfnisse der Nutzenden eingehen zu können. Sie nennt ihr Modell Raumwert-Analyse und legt dafür neun zentrale Kriterien fest: nachvollziehbare Funktionszusammenhänge, Orientierung und Übersichtlichkeit, Raumangebot und Raumqualität, Flexibilität, Individualität und Improvisation, Wegeführung, Hierarchie von Nähe und Distanz, Raumklima und Behaglichkeit sowie Lieblingsplätze und Außenwirkung. Jedes Kriterium wird anhand konkreter Projekte aus ihrer Planungstätigkeit beispielhaft erläutert.

 

 

 

 

Ursula Spannberger
Raum wirkt.
160 Seiten, deutsch
Verlag Ludwig, € 33,90

Ums große Ganze der Architektur geht es dem Schweizer Architekten Stefan Kurath in jetzt: die Architektur!. Der Band wirkt wie ein Manifest für die Einmischung der Architekten, er ist ein Konglomerat aus vielfältigen Texten des Autors der letzten Jahre. Kurath argumentiert, dass die Architektur sich nicht auf Spitzenleistungen beschränken darf, sondern den Alltag im Fokus haben muss. Autonomiebestrebungen der Architektur, wie sie nicht zuletzt in der Schweiz in vielfältiger Form bestanden und bestehen, hält er für eine Fehlentwicklung. Er beschreibt fünf Planungsmodelle, die alle ihre Verdienste haben, aber einseitig angewandt werden: das Gottvater-, Governance-, Smart-City-, Mitwirkungs- und evidenzbasierte Modell der Planung. Mithilfe des Werkzeugkoffers der Actor Network Theory etwa von Bruno Latour, Albena Yaneva und Michel Callon erläutert er die Verfehlungen der apolitischen Architektur. Er beschreibt, wie gute Architektur nicht zuerst entworfen und dann nur mehr ausgeführt werden muss, sondern die Qualität des Resultats täglich neue Anstrengungen vielfältiger Akteure erfordert – und genau dort, wo das am schwierigsten ist, in Städtebau und Stadtplanung, wird dafür am wenigsten getan. Kurath ist überzeugt, dass Architektur „kann“ – wenn man sie anschlussfähig macht. Er plädiert deshalb für den politischen Architekten, die politische Architektin. Kurath argumentiert gegen den Ausschluss des Außerarchitektonischen aus der Architektur und gegen die Illusion der unabhängigen Architektur. Den Abschluss bildet ein Interview mit Thomas Sieverts, dem Protagonisten der Zwischenstadt.

 

Stefan Kurath
jetzt: die Architektur! Über Gegenwart und Zukunft der architektonischen Praxis
256 Seiten, deutsch
Park Books, € 29,-

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