MEDIA REVIEW

Neue Erkenntnisse zum Städtebau

Wer vermutet hat, der europäische Städtebau sei bereits umfassend erforscht, wird immer wieder eines Besseren belehrt. Unter den Fachleuten, die sich auch scheinbar peripheren Ländern gewidmet haben, ragt der Architekturhistoriker Harald Bodenschatz hervor. Sein Spezialgebiet ist der Städtebau der Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den er jeweils mit einem erstklassigen Team von Expertinnen und Experten untersucht hat. Seine Bücher sind Meilensteine der Forschung.


Eine Auswahl von Wolfgang Jean Stock

Wie sehr die Diktaturen Architektur und Städtebau zur Darstellung ihrer Macht eingesetzt haben, konnte Harald Bodenschatz bereits am Beispiel der stalinistischen Sowjetunion und des faschistischen Italiens dokumentieren. In seiner neuen Forschung hat er die Entwicklung auf der iberischen Halbinsel untersucht. Der mit Max Welch Guerra herausgegebene Band Städtebau unter Salazar zeigt die diktatorische Modernisierung des portugiesischen Imperiums zwischen 1926 und 1960 in aller Breite – von der Hauptstadt Lissabon bis hin in die afrikanischen Kolonien. Auch im repressiven „Estado Novo“ (Neuer Staat) war der Städtebau ein Medium der Propaganda. António Salazar sah seine politische Mission darin, Portugal auf ein modernes Niveau zu heben. Eine große Rolle spielte die Infrastruktur mit neuen Straßen, Bahnlinien und Staudämmen, weshalb der Ingenieur noch höher geschätzt wurde als der Architekt und Städtebauer. In der Architektur wurde der Monumentalstil nach dem Zweiten Weltkrieg durch moderne Bauformen abgelöst. Auch für das benachbarte Spanien haben Bodenschatz und Guerra ein reich illustriertes Standardwerk vorgelegt.

 

Harald Bodenschatz, Max Welch Guerra (Hrg.)
Städtebau unter Salazar
496 Seiten, deutsch
DOM Publishers, € 98,–

Für den Band Städtebau als Kreuzzug Francos wurden wiederum unzählige Quellen in Archiven und Literatur ausgewertet. Die konzise Darstellung setzt 1938 ein, kurz vor Ende des grausamen Bürgerkriegs, den Francos faschistische Massenorganisation Falange als „Kreuzzug“ für ein national-katholizistisches Spanien führte. Den Wiederaufbau des stark zerstörten Landes und seine Erneuerung bis 1959 bezeichnen die Autoren als „Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln“. So gab es einerseits Ansätze zu einem Wohlfahrtsstaat mit neuen Schulen und Krankenhäusern, auf der anderen Seite aber Zwangsarbeit für politische Gegner und einen Wohnungsbau, der die staatsloyale Mittelschicht bevorzugte. Neben den großen Plänen für Madrid und Barcelona wird auch der Städtebau in den nordafrikanischen Kolonien dargestellt. Wie in Portugal kamen die frühen Vorbilder für Urbanität aus dem faschistischen Italien und aus NS-Deutschland.

 

 

 

Max Welch Guerra, Harald Bodenschatz (Hrg.)
Städtebau als Kreuzzug Francos
460 Seiten, deutsch
DOM Publishers, € 98,–

Eine weitere Lücke in der städtebaulichen Forschung hat Richard Němec gefüllt. Sein Buch Die Ökonomisierung des Raums behandelt erstmals das Planen und Bauen in Mittel- und Osteuropa unter den Nationalsozialisten von 1938 bis 1945 im historischen wie auch wirtschaftlichen Kontext. Thema ist die geplante Germanisierung des „neuen deutschen Ostens“ in der Tschechoslowakei und in Polen. Mit dieser Arbeit, seiner Habilitation, ist Němec ein Meisterstück geglückt. Ihre Qualität erweist sich schon an der großen Zahl der konsultierten Archive. Begleitet von vielen Landkarten und Stadtplänen, von historischen Fotos und Modellaufnahmen, schildert das Buch, was die Nazis im Einzelnen vorhatten. So sollte etwa Reichenberg zur Gauhauptstadt werden und Karlsbad zum Weltkurort, Krakau als „Musterstadt“ gegenüber Warschau im besetzten Polen aufgewertet werden. Ein großes Kapitel gilt Prag, das als „neue Hauptstadt des Protektorats Böhmen und Mähren“ geplant war. Zumindest dort wurde ein NS-Vorhaben nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeführt: die breite Nord-Süd-Transversale.

 

 

Richard Němec
Die Ökonomisierung des Raums
498 Seiten, deutsch
DOM Publishers, € 98,–

Er ist ein besonders origineller Deuter der Moderne in Architektur und Design: der Schweizer Kunsthistoriker Stanislaus von Moos. Er verbindet Themen, deren Zusammenhang andere nicht auf Anhieb erkennen. Das gilt auch für sein neues Buch mit dem etwas irritierenden Titel Erste Hilfe, das den Architekturdiskurs nach 1940 in der Schweiz untersucht. Im Zentrum steht die Frage, wie die eidgenössische Architektenschaft auf die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg reagiert hat. Einige schauten von der heilen Insel Schweiz aus fasziniert in die Nachbarländer, etwa der Architekt und Tagebuchautor Max Frisch, der in den zerstörten Städten auch eine Chance für großzügige moderne Neuplanungen sah – im Gegensatz zum Erbe der verschachtelten Schweizer Altstädte. Durch eine Fülle an Beispielen kann von Moos belegen, dass entgegen der Rede von 1945 als „Stunde Null“ die Nachkriegsmoderne auch in der Schweiz bereits im Jahr 1940 eingesetzt hat. Das Buch ist als gelehrter, weit ausgreifender Diskurs keine leichte Kost. Doch die Lektüre lohnt, weil man die helvetische Entwicklung besser verstehen lernt.

 

 

 

 

Stanislaus von Moos
Erste Hilfe. Architekturdiskurs nach 1940
448 Seiten, deutsch
gta Verlag, € 55,–

Sigurd Lewerentz (1885–1975) zählt in der schwedischen Architektur des 20. Jahrhunderts zu den großen Einzelgängern. Lange Zeit ein Geheimtipp, wird er seit einigen Jahren fast mythisch verehrt. Dies kann verstehen, wer gerade seine Kirchen und Kapellen mit den ungewöhnlichen Raumbildungen und Detaillösungen kennt. Dennoch war die Literatur über sein Werk bislang qualitativ bescheiden. Nun hat das Zentrum für Architektur und Design in Stockholm den Prachtband Sigurd Lewerentz – Architect of Death and Life herausgebracht. Mehrere Kilo schwer, dokumentiert er das Lebenswerk so umfassend, dass nahezu kein Wunsch offen bleibt. Großteils zum ersten Mal veröffentlicht, fügen sich Zeichnungen, Pläne, Skizzen und Fotos zu einem noblen Buch, das sorgsam gestaltet und auf unterschiedlichen Papieren hervorragend gedruckt ist. Lewerentz war insofern auch Städtebauer, als er zwei große Landschaftsarchitekturen gestaltet hat: den Ostfriedhof in Malmö und den Waldfriedhof in Stockholm, diesen zusammen mit Gunnar Asplund, einem weiteren großen Schweden. Beide Anlagen, die aus Wettbewerben hervorgingen, gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der skandinavischen Moderne.

 

Kieran Long, Johan Örn (Hrg.)
Sigurd Lewerentz – Architect of Death and Life
712 Seiten, englisch
Park Books, € 120,–

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