Change Blog # 7

Soll es eine europäische Baukultur geben?

Anna-Lindh-Saal des Europäischen Parlamentes in Brüssel (c) Wiki Commons, Matthias Friehe

Bis Herbst 2022 will die EU ihre politischen Fernziele erarbeiten. Welche Rolle wird die Umweltgestaltung darin spielen? Kann man gute Baukultur verordnen? Breites Resilienzbewusstsein erlernen?


 

„Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat bei ihrem Amtsantritt 2019 in ihren politischen Leitlinien eine auf zwei Jahre angelegte Konferenz zur Zukunft Europas angekündigt. Neben den EU-Institutionen sollen sich an der Zukunftskonferenz alle Mitgliedstaaten, die nationalen Parlamente, zivilgesellschaftliche Organisationen, Sozialpartner, Vertreterinnen und Vertreter regionaler und lokaler Institutionen sowie Bürgerinnen und Bürger beteiligen. Im Mittelpunkt der Debatte sollen einerseits Themen stehen, die den Bürgerinnen und Bürgern wichtig sind, und Prioritäten der europäischen Institutionen darstellen – von der Bewältigung der Corona-Krise und deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft über die Bekämpfung des Klimawandels bis hin zu Digitalisierung oder Migration. Andererseits sollen demokratische Prozesse, Mitbestimmung und institutionelle Fragen der Europäischen Union diskutiert werden.“ So informiert Österreichs EU-Ministerin Karoline Edtstadler über den Prozess, der letztlich zu so etwas wie einer kulturellen Identität oder zumindest zu einem weltweit erkennbaren Profil der Union führen könnte – jenseits des wohlhabenden Migrationsziels und Weltzentrum der Softskills. Ein profund neuer Markenbildungsprozess im globalen Wettbewerb? Oder nur sanftes Re-Branding?

Es führt kaum ein Weg daran vorbei, die Bürger für öko-soziale Bau-Zusammenhänge zu sensibilisieren und damit letztlich den nötigen kulturellen Wandel zu bewirken. Europa hat großartige öffentliche Bildungssysteme, die dafür genutzt werden müssen.

 

Sitz der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam (c) Wiki Commons, Till Budde

Sitz der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam (c) Wiki Commons, Till Budde

Für die Architekturschaffenden lautet die wesentliche Frage: Welche Rolle in diesem Prozess wird nachhaltige Umweltgestaltung auf allen Ebenen und deren Teilmenge Baukultur spielen? Am Beginn des Unternehmens sollte die Bestandsaufnahme vorhandener Instrumente und Ziele stehen – aber auch die kritische Befragung der Möglichkeiten zentraler Steuerung komplexer kultureller Entwicklungen. Unter den vorhandenen Instrumenten ist vor allem der Davos-Prozess zu nennen. Das Schweizer Bundesamt für Kultur erklärt das Tool: „Am 21. und 22. Januar 2018 haben die Kulturministerinnen und Kulturminister Europas im Vorfeld des Jahrestreffens des Weltwirtschaftsforums WEF eine Erklärung zur politischen und strategischen Verankerung einer hohen Baukultur in Europa verabschiedet. Mit der Erklärung von Davos beginnt der Davos Prozess, der die Debatte über die Baukultur weiterführen soll. Kernbegriffe der Erklärung wie ‚Qualität‘, ‚gemeinsame Verantwortung‘, ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ werden wissenschaftlich vertieft. Auf politischer Ebene gilt es, bessere Strategien einzuführen, die das kulturell fokussierte Konzept von Baukultur umfassen und die Vision einer hohen Baukultur als vorrangiges politisches Ziel einbeziehen.“

In Österreich wurden sogar schon 2017, also vor der Davoser Konferenz, die Baukulturellen Leitlinien des Bundes beschlossen: Sie repräsentieren „eine durch Beschluss der Bundesregierung eingegangene freiwillige Selbstbindung des Bundes im öffentlichen Interesse und dienen entsprechend dem Strategiebericht zum Bundesfinanzrahmengesetz 2017-2020 als Basis einer partnerschaftlichen Zielsteuerung im Bereich Baukultur. Sie bestehen aus allgemeinen Grundsätzen und 20 Leitlinien, die sich in 6 Handlungsfelder gliedern: Orts-, Stadt- und Landschaftsentwicklung, Bauen, Erneuern und Betreiben, Prozesse und Verfahren, Bewusstseinsbildung und Beteiligung, Wissenschaft und Kompetenzvermittlung sowie Lenkung, Koordination und Kooperation.“ Man sieht: Alleine schon die „Selbstbindung“ eines einzigen öffentlichen Bauherrn (damit sind nicht einmal die Bundesländer und Gemeinden erfasst, geschweige denn die private Bautätigkeit) erweist sich sofort als bürokratisches Monster, wenn sie auch nur in den wichtigsten Handlungsfeldern des komplexen Bauwesens festgeschrieben und implementiert werden soll. Wie würde das auf nationaler Ebene aussehen? Oder gar auf EU-Ebene? Es ist klar: Baukultur kann ohne absurde juristische Eingriffe in den Alltag kaum seriös normiert oder gar fest- und vorgeschrieben werden. Wir der Begriff schon verrät, ist Baukultur eben eine kulturelle Frage, und die genannte „Bindung“ einer im Wesen dynamischen Kultur kommt eigentlich ihrer Abschaffung gleich.

Werner Durth, Paul Sigel, Baukultur (c) Jovis Verlag

Werner Durth, Paul Sigel, Baukultur (c) Jovis Verlag

Ist vielleicht radikale Subsidiarität die Lösung? Also EU-weit höchstens allgemeine Ziele zu formulieren, die dann auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene nach eigenem Ermessen umgesetzt werden sollen? Sicher nicht – siehe Beispiel Raumordnung, die in Österreich als Landessache in den vergangenen Jahrzehnten zu evident problematischen Ergebnissen geführt hat. Bei der Raumordnung geht es an die Substanz, denn sie verwaltet die kostbarste Ressource des Bauwesens – die Bauflächen. Und sie hat überregionale Auswirkungen – Regionen mit dysfunktionaler Raumordnung beeinträchtigen zweifellos ihre Nachbarn negativ. Kann man daraus folgern, dass mit der Bedeutung der jeweiligen Bau-Materie auch die Ebene steigen muss, auf der sie geregelt wird? Möglicherweise, denn wenn wir andere zentrale Ressourcen betrachten – etwa Energie, Wasser, Land- und Forstwirtschaft –, dann leuchtet ein, dass deren Management jeweils enorme überregionale bis globale Auswirkungen hat. Wer nur fossile Energiegewinnung betreibt, ruiniert das Weltklima, wer Wasser verschwendet oder verunreinigt, schadet dem Nachbarn flußabwärts, und wer ausschließlich chemisch und genetisch manipulierte, nicht-nachhaltige, industrielle Land- und Forstwirtschaft betreibt, der verzerrt den Lebensmittel- und Baustoffmarkt auf unverantwortliche Weise. Hier gilt: Je zentraler diese Bereiche geregelt werden, desto weniger können Wettbewerbsnachteile für Konkurrenten mit unterschiedlichen diesbezüglichen Ordnungssystemen entstehen.

Es wird nicht reichen, in der EU bloß mehr oder weniger unverbindliche politische und kulturelle Ziele zu formulieren. Der prinzipielle Umgang mit den wichtigsten Ressourcen muss tatsächlich EU-weit normiert werden. Der Umstieg von fossiler zu solarer Energie könnte schon bald „verordnet“ werden – er liegt durchaus schon in technischer Reichweite. Und danach sollte er – da brauchen wir ein Selbstbewusstsein wie China oder die USA – auch konsequent „exportiert“ werden. Das wäre zur Abwechslung mal ein echter „hard skill“ statt der bisher dominierenden, weltweit eher belächelten Soft Skill-Kompetenz der Union. Auf der nächsten Ebene sollten dann Stimulationsprogramme etabliert werden – etwa im Förderwesen, das beispielsweise beim Flächenkonsum Bestandsumbauten und Ersatzbauten gegenüber kompletten Neubauten bevorzugen sollte – Raumordnung muss zumindest in nationale Kompetenz wandern. Und Gebäude, zumindest Wohn- und Bürohäuser, sollen Energie produzieren statt konsumieren, was technisch längst machbar ist und Standard werden muss.

Europäisches Parlament in Straßburg (c) Wiki Commons, Diliff

Europäisches Parlament in Straßburg (c) Wiki Commons, Diliff

Die konkrete Ausgestaltung dieser Eck-Normen sollte dann auf regionaler und lokaler Ebene erfolgen. Niemand ohne Ortskenntnis wird den Gemeinden vorschreiben wollen, ob sie bevorzugt in Stein oder Holz bauen sollen, was ja von lokalen Ressourcen abhängt. Geschweige denn, welche Formen und Dichten sinnvoll sind, solange keine nichterneuerbaren Ressourcen wie etwa der Raum beansprucht werden.

Da die Umweltgestaltung einerseits eine Überlebensfrage ist, andererseits jedoch eine komplexe und vernetzte Angelegenheit, wird die Bildung das entscheidende Tool sein. Es führt kaum ein Weg daran vorbei, die Bürger für öko-kulturelle Bau-Zusammenhänge zu sensibilisieren und damit letztlich den nötigen kulturellen Wandel zu bewirken. Europa hat großartige öffentliche Bildungssysteme, die dafür genutzt werden müssen. Die Effekte werden sich schneller einstellen als man erwartet. Eine neue Techniker- und Konsumentengeneration ist binnen zehn Jahren am Markt, wenn man eine durchschnittliche Bildungslaufbahn Jugendlicher betrachtet. Eine Forderung sei hier gewagt: Die „Eliten“ müssen endlich den Mut finden, konkrete Bildungsziele auf der „Basis“ des praktischen Hausverstands zu formulieren und zu implementieren. „Herrschaftswissen“ muss Allgemeinwissen werden.

Wir werden weiter darüber berichten, wie dieser Prozess vorankommt. In Österreich hat für die regionale Ebene etwa die Plattform Baukultur eine Agenda formuliert, die versucht, den nötigen Ausgleich zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung zu finden. Sie fordert etwa „die Einsetzung einer zentralen Einrichtung mit operativem Budget in Kooperation von Bund und Ländern zur Umsetzung und Weiterentwicklung dieser Leitlinien (beispielsweise eine Baukultur-Agentur). Ziel ist es, sich zehn vordringlichen Herausforderungen politisch zu stellen: 1. Ressourceneffiziente Siedlungsentwicklung, 2. Stärkung der Orts- und Stadtzentren, 3. Fokus auf die soziale Dimension der Baukultur, 4. Qualifizierung öffentlicher Bauherren und qualitätsorientierte Auftragsvergabe, 5. Prüfung der Baukulturrelevanz von Lenkungsmaßnahmen, 6. Nutzung des ökonomischen Potenzials der Baukultur, 7. Ausbau von Bildung, Vermittlung und Beteiligung in der Baukultur, 8. Intensivierung baukultureller Forschung und Innovation, 9. Evaluierung von Baukultur sowie 10. Schaffung einer Förderstruktur für Baukultur.“ – Ja, mit diesem Starter-Set könnte und sollte man beginnen.

Zaha Hadid, Learning Center, Campus WU, Wien (c) M. Boeckl

Zaha Hadid, Learning Center, Campus WU, Wien (c) M. Boeckl

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