Bernhard Denkinger über Strukturalismus und Brutalismus

Vergessene Alternativen

Buchcover: Die vergessenen Alternativen

Für einige ist sie Kult. Für andere nicht einmal zu ignorieren. Die Architektur des Brutalismus polarisiert. Man hasst oder man liebt sie. Viele aber wissen nicht einmal so genau, was der Begriff eigentlich meint und dass die brutalistische Strömung mehrere Ausformungen kennt. Bernhard Denkinger hat dem Strukturalismus und der brutalistischen Erfahrung in der Architektur nun ein Buch gewidmet, das im Verlag jovis erschienen ist: „Die vergessenen Alternativen“ heißt es – und regt an, die Wesensmerkmale dieser einst sehr populären Strömungen nicht unüberlegt als Relikte der Vergangenheit zu entsorgen, sondern für die Zukunft zu adaptieren. Denn nicht alles, was vorbei ist, ist damit automatisch auch unbrauchbar. 


 

Cubiscus_Institut für angewandte Mathematik, Universität Twente in Enschede; Leo Heijdenrijk und Jos Mol 1973, Foto Bernhard Denkinger

Cubiscus_Institut für angewandte Mathematik, Universität Twente in Enschede; Leo Heijdenrijk und Jos Mol 1973, Foto Bernhard Denkinger

Prädestiniert für sozialstaatliche Bauaufgaben

Der Begriff Brutalismus leitet sich vom Beton brut – dem französischen Ausdruck für Sichtbeton – ab, kann aber auch Bauten bezeichnen, die aus einem anderen Material errichtet sind. Zu ihrer Blütezeit – von den frühen 1960er bis in die späten 1970er Jahren – versprach man sich von diesen Bauten, die meist aus vorgefertigten Elementen – sehr oft aus unverputztem Sichtbeton - errichtet und modular aufgebaut waren, die rasche, unkomplizierte und nachhaltige Lösung der meisten dringenden baulichen Bedürfnisse der damaligen Nachkriegsgesellschaft. Sie schienen ideal, um Veranstaltungshallen, Universitäten, Spitäler, Studenten-, Alters- und Schwesternheime, soziale Wohnbauten, Theater, Sportstadien, Bahnhöfe und mehr zu errichten. Per se nicht hierarchisch und demokratisch, erachtete man Bauweise und Material als prädestiniert für sozialstaatliche Bauaufgaben. Mit dem schleichenden Niedergang des Sozialstaats, einem zunehmenden ökologischen Bewusstsein, einer allgemeinen Skepsis gegenüber großen Strukturen und technischen Lösungen verloren diese Bauten an Bedeutung. Außerdem vergaß man oft, ihre Wartung als wesentlichen Faktor im Betrieb zu berücksichtigen. Ein Punkt, an dem das Überleben und die Funktion vieler großer Bauten dieser Zeit gescheitert sind. Man denke nur an die spektakuläre Sprengung des einstigen Herzeigeprojekts des sozialen Wohnbaus der U.S.A., der Großwohnsiedlung Pruitt Igoe von Architekt Minoru Yamasaki in St. Louis. Die Sprengung der 33 Blöcke im Jahr 1972 wurde sogar im Fernsehen übertragen. Für den Architekten Charles Jencks bezeichnete dieses Ereignis das Ende der Nachkriegs-Moderne.

Mit dem Brutalismus gewann die Architektur wieder an physischer Präsenz, bekam etwas von ihrem Körper zurück, nachdem sie sich zuvor entmaterialisiert, in gläserne Wände und aseptisch-weiße Flächen aufgelöst hatte.

Bernhard Denkinger

 

Centraal Beheer Gebäude, Apeldoorn, Architekt Hermann Hertzberger, 1972, Zustand 2016, Photo: Deimel + Wittmar

Centraal Beheer Gebäude, Apeldoorn, Architekt Hermann Hertzberger, 1972, Zustand 2016, Photo: Deimel + Wittmar

Brutalistischer Trend

2017 widmete das Deutsche Architekturmuseum (DAM) dem Brutalismus eine Ausstellung, die 2018 – um einen österreichischen Teil ergänzt - ins Architekturzentrum Wien weiterwanderte. Sie erkannte einen Trend und half, ein neues Bewusstsein zu schaffen: Seit einiger Zeit genießt die umstrittene, dafür umso charakteristischere Strömung bei einer bestimmten designbewussten und architekturaffinen Klientel wieder wachsende Wertschätzung. Die raue Ästhetik brutalistischer Bauten eignet sich hervorragend für Instagram und macht sich auch sonst in sozialen Netzwerken bestens. Die Bandbreite dessen, was unter dem Begriff Brutalismus subsummiert wird, reicht allerdings weit. In seinem Fahrwasser gediehen auch Strömungen wie der vor allem in Großbritannien verbreitete „New Brutalism“, zu dessen Hauptprotagonisten Alison und Peter Smithson zählen, sowie der Strukturalismus. Er fand ursprünglich vor allem in den Niederlanden seinen gebauten Ausdruck.

Als Musterbeispiel für diese Richtung kann beispielsweise das Waisenhaus in Amsterdam von Aldo van Eyck gelten. Seine Aneinanderreihung lauter gleicher Raumzellen entspricht einer prototypischen Anwendung strukturalistischer Prinzipien, obwohl der Architekt sich von dieser Zuschreibung wahrscheinlich distanzieren würde. Noch klarer liegt der Fall bei Hermann Hertzberger: er ist ein eindeutiger, bekennender Vertreter des Strukturalismus. Beiden – Hertzberger, Aldo van Eyck, den Smithsons, sowie den Strömungen des Strukturalismus und New Brutalism widmet Bernhard Denkinger sein Buch „Die vergessenen Alternativen – Strukturalismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur.“

Künstlerische Tendenzen

Denkinger nähert sich seinem Thema grundsätzlich und philosophisch. „Die großen Thesen der modernen Architektur waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Umfeld entwickelt worden, das durch eine positivistische Wissenschaft und die Idee eines linearen Fortschritts geprägt war. Nach dem Zweiten Weltkrieg hinterfragte eine neue Generation von Architekten diese Thesen. Ihre Kritik bezog sich auf die nun sichtbar werdenden Defizite moderner Architektur, für die sie deren Rationalismus verantwortlich machte“, fasst er in seiner Einleitung zusammen. „Innerhalb sehr kurzer Zeit entstand das Narrativ, die Moderne müsse sich von ihren rationalistischen Ursprüngen befreien, um zu ihrem „eigentlichen“ Anliegen zu gelangen. Dieses Narrativ wurde von Gruppierungen wie den New Brutalists in Gang gesetzt und von den Künstlern der Pop Art fortgeschrieben. Es wurde aber auch von Architekten mitgetragen, die später die strukturalistische Architektur vertraten.“ [1]

 


[1] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.24, letzter Absatz

Wassertank_Hunstanton Secondary Modern School_Alison and Peter Smithson_Foto Anna Armstrong

Wassertank_Hunstanton Secondary Modern School_Alison and Peter Smithson_Foto Anna Armstrong

Niederländische Prägung: Strukturalismus

In der strukturalistischen Architektur „anthropologischer“ Prägung sollte das „Schöne“ keine zulässige Kategorie mehr sein dürfen. Bekannteste Vertreter dieser Strömung, die sich vor allem in den Niederlanden manifestierte und auch in der dortigen Publikation „Structuralism in Dutch Architecture“ von Wim van Heuvel (1992) ihren Niederschlag fand, sind Aldo van Eyck und Herman Hertzberger. Van Heuvel versuchte, die strukturalistische Architektur zu einem niederländischen Nationalstil zu erklären, weil die dortige sehr offene und liberale Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit die Realisierung solcher Bauten in besonderer Art ermöglichte und forcierte. Dazu zählen beispielsweise das Waisenhaus der Stadt Amsterdam von Aldo van Eyck, 1960 und das Centraal-Beheer-Gebäude in Apeldoorn von Herman Hertzberger, 1972. Mit der „Seinsart der Kunstwerke“ beschäftigten sich etwa zeitgleich die New Brutalists in London, als deren prominenteste Vertreter das britische Architektenehepaar Alison und Peter Smithson gelten dürfen. „Der New Brutalism hatte Bilder, mit denen Vorstellungen und Assoziationen verknüpft werden konnten. Solche Bilder schloss eine strukturalistische Konzeption aus. Treten eine gedankliche Konzeption und ein Bild in einen Wettbewerb, dann bleibt das Bild, die Idee entschwindet. Der New Brutalism hatte seine ‚Images‘ noch mit einer Verrätselungsklausel gegen unerwünschte Interpretation abgesichert. Das überwand sein großer Bruder, der Brutalismus, rasch“, stellt Denkinger fest.[1] Illustriert wird diese Feststellung sehr bezeichnend mit einem Foto des Wasserturms von Alison und Peter Smithson der Hunstanton School in Norfolk, einem Gebäude aus Sichtbeton, das wie ein überdimensionierter Plastikkanister auf sehr hohen Stützen aussieht und weit mehr an ein Objekt oder Kunstwerk als ein Stück Gebäudeinfrastruktur denken lässt.

 


[1] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.22, letzter Absatz

Central Beheer_aussen_12_3303 Apeldoorn; Hermann Hertzberger 1972, Zustand 2016, Foto Deimel + Wittmar

Central Beheer_aussen_12_3303 Apeldoorn; Hermann Hertzberger 1972, Zustand 2016, Foto Deimel + Wittmar

 Sonderfall

„Der New Brutalism war ein Sonderfall der Architekturgeschichte. Für die meisten Architekturkritiker reduzierte er sich auf das britische Architektenehepaar Alison und Peter Smithson. Seine geistigen Grundlagen und die problematische Anwendung des Begriffs Brutalismus auf eine Architektur, die später nur mehr auf Ausdruck abzielte, hat bereits Jürgen Joedicke sehr anschaulich beschrieben[1]….Die vielen Wendungen und Neubestimmungen, die die Smithsons in ihren Schriften und in ihrem architektonischen Werk vollzogen, relativierten frühere Haltungen und ließen ihre theoretischen Ansätze als wenig konsistent erscheinen“, schreibt Denkinger auf Seite 25. „Der New Brutalism war ein komplexes Konglomerat von Ideen, die eine Gruppe innerhalb der ‚independent group‘ formulierte. Die ‚Independent Group‘ selbst war eine alternative Gruppierung innerhalb des Londoner Institute of Contemporary Art (ICA), die sich aus Künstlern, Theoretikern und Architekten zusammensetzte.“ Im Unterschied zu Aldo van Eyck oder Herman Hertzberger, die das Entstehen einer von Konsum und Werbung dominierten Gesellschaft pessimistisch bewerteten, nahmen die New Brutalists die US-amerikanische Massenkultur positiv auf und bezogen aus ihr wesentliche Anregungen.

Am Beginn seines Buches geht Denkinger im Kapitel „Zwei Architekturströmungen“ genau auf die Themen, sowie die Unterschiede des New Brutalism und der strukturalistischen Architektur ein. „Der Brutalismus veränderte die Architektur, indem er eine neue Wahrnehmung ermögliche. Gleichzeitig bestätigte er eine Linie der Moderne, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichte: die Entdeckung des ,Primitiven‘ in der Modernen Kunst….Mit dem Brutalismus gewann die Architektur wieder an physischer Präsenz, bekam etwas von ihrem Körper zurück, nachdem sie sich zuvor entmaterialisiert, in gläserne Wände und aseptisch-weiße Flächen aufgelöst hatte“, so Denkinger. [2] „Der Strukturalismus hingegen war der Versuch, die intellektuelle Substanz einer Zeit, wie sie in einer historisch herausragenden philosophischen Strömung zum Ausdruck kam, in Architektur zu fassen.“ Im folgenden Abschnitt des Buches widmet sich Denkinger der „brutalistischen Erfahrung“. Eine wesentliche Rolle nehmen dabei die Wertschätzung des Primitiven in der Kunst und eine Faszination für die raue Materialität des Béton brut ein. Die Smithsons verwendeten den Begriff „New Brutalism“ erstmals für ihren Entwurf für ein Haus in Soho, der im Dezember 1953 in der britischen Zeitschrift „Architectural Design“ publiziert wurde.[3] „Es wurde beschlossen, überhaupt keine Verkleidungen im Inneren zu haben…nackter Beton, … die Struktur sollte vollständig sichtbar sein.“[4] Realisiert wurde dieses sehr einfache Haus, das von seiner Grundrisskonzeption her auch an das Loossche „Haus zwischen zwei Mauern“ erinnert, allerdings nie. Beschriftung und Ästhetik der Pläne erinnern eindeutig an Le Corbusier, der 1952 in Marseille seine berühmte „Unité d’habitation“ realisiert hatte, das wohl erste „brutalistische“ Gebäude. Le Corbusier und der reduzierte, naturphilosophische Purismus der historischen japanischen Baukultur waren zwei wesentliche Referenzpunkte für die Smithsons. Einen großen Beitrag zur Verbreitung des New Brutalism bildete Reyner Banham, der Ende Dezember 1955 in der „Architectural Review“ den Artikel „The New Brutalism“ veröffentlichte. „Die Substanz des Brutalismus war, dass eine extreme Weltsicht kompromisslos und mit Schärfe vorgetragen wurde“, resummiert Bernhard Denkinger auf Seite 68 die „brutalistische Erfahrung.“ Banham begreift den New Brutalism übrigens als Kunstbewegung, nicht als Architekturströmung. Anhand der Architektur der Hunstaton School definierte Banham die Regeln des „New Brutalism“: 1. Formale Lesbarkeit des Plans von außen, (von Banham am Ende seines Artikels ersetzt durch „als Bild erinnerbar“) 2. Das „Ausstellen“ der Konstruktion und 3. die den Materialien inhärenten Qualitäten „as found“ zum Ausdruck zu bringen.[5]

 


[1] Joedicke, Jürgen: Architektur im Umbruch. Geschichte – Entwicklung – Ausblick. Stuttgart 1980, S. 84

 

[2] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.39 Absatz „Eine erweiterte Wahrnehmung der Welt, die intellektuelle Substanz der Zeit.“

[3] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.60, erster Absatz „Warenhaus- Astethik“ – ein Haus in Soho

[4] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.61

[5] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.71

Robin Hood Gardens, London; Alison und Peter Smithson 1972, Zustand 2016; Foto Bernhard Denkinger

Robin Hood Gardens, London; Alison und Peter Smithson 1972, Zustand 2016; Foto Bernhard Denkinger

Patio and Pavilion

Ein eigenes Kapitel widmet Denkinger der Ausstellung „Patio and Pavilion“ von Nigel Henderson, Eduardo Paolozzi, Alison und Peter Smithson. Für diese programmatische Installation konzipierten die Smithsons eine Ausstellungsarchitektur, die wie ein archaischer Stadel wirkte. Auch sein durchsichtiges Dach aus Wellkunststoffplatten war mit Objekten belegt, das Innere dieses ursprünglichen Habitats wurde von den Künstlern mit sehr symbolträchtigen Objekten bestückt. Zur Ausstellung dieser Hütte zählten außerdem das Rad eines Fahrrades, bemalte Steine, Skulpturen und andere bedeutungsschwere Gegenstände, die wie Artefakte aus archaischen Fundstätten wirkten.

Robinhood Gardens   

Einen eigenen Abschnitt widmet Bernhard Denkinger dem größten Gebäude, das Alison und Peter Smithson im Lauf ihrer Karriere realisierten: Der Wohnanlage Robin Hood Gardens in London. Ihre Planung wurde 1967 begonnen, realisiert wurden schließlich 268 Wohneinheiten in fünf unterschiedlich großen Wohnungstypen, die für zwei bis sechs Personen gedacht waren. Alle Wohnungen waren nach zwei Seiten orientiert, sie wirkten also sehr großzügig und hell, vor allem waren – bis auf die Einheiten im Erdgeschoss – die meisten als Maisonetten über zwei Ebenen organisiert. Das Grundstück lag in einem Problembezirk und war auf drei Seiten von lauten Straßen umgeben, die Architekten reagierten darauf, indem sie die Schlafräume und Wohnküchen zum ruhigeren Grünbereich im Inneren orientierten. Die vertikalen Betonlisenen, von denen die Fassade auch optisch strukturiert wurde, sollten außerdem dazu beitragen, die Schallbelastung zu reduzieren. Ein charakteristisches Merkmal der „Robin Hood Gardens“ waren außerdem sehr breite Erschließungsdecks vor den Wohnungen, auf denen Kinder spielen und Menschen einander begegnen konnten. Auch die inneren Erschließungsgänge waren mit Sitzbänken, bunten Wänden und einer auffälligen Grafik sehr ansprechend gestaltet. Fotos und Pläne dokumentieren diese sehr eindrucksvolle, monumentale Anlage sehr gut. „Die Robin Hood Gardens fanden öffentliche Aufmerksamkeit, weil die städtebauliche Idee, der sie folgten, zu diesem Zeitpunkt intensiv diskutiert wurde“, merkt Bernhard Denkinger an. „Dabei traten architektonische Qualitäten der Gebäude – angesichts des Verlangens der Kritik, ein größeres städtebauliches Vorbild eingelöst zu sehen – in den Hintergrund. …. Im Gegensatz zu einer nicht unbedeutenden Zahl anderer Bauten des britischen Wohlfahrtsstaates, wie zum Beispiel der Wohnsiedlung Alexandra Road in Camden (von Neave Brown) oder dem Trellick Tower in London (von Ernö Goldfinger) wurde Robin Hood Gardens kein Denkmalstatus zuerkannt. Das mag damit zusammenhängen, dass sich die Architektur der Anlage nicht zu einem einzigen ,erinnerungswürdigen‘ Bild zusammenfügen ließ.“[1] Wie dem auch sei: es bedeutete Ende und Niedergang dieser außergewöhnlichen Anlage: „Spätestens 1975 waren die sozialen Probleme, die hier herrschten, unübersehbar. Sie manifestierten sich durch Vandalismus und Kriminalität, vor allem durch den Einzug von Drogendealern. Ein Gebäude, das die Prinzipien einer alternativen modernen Architektur hätte aufzeigen sollen, wurde zu einem ,failed building‘, zu einem Symbol des Scheiterns dieser alternativen Moderne.“[2]

 


[1] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.123

[2] Denkinger, Bernhard: Die vergessenen Alternativen, Strukuralismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur, jovis, 2019, S.124

Robin Hood Gardens, London; Alison und Peter Smithson 1972, Zustand 2016; Foto Bernhard Denkinger

Robin Hood Gardens, London; Alison und Peter Smithson 1972, Zustand 2016; Foto Bernhard Denkinger

Der Strukturalismus hatte bessere Karten: das Bürogebäude Centraal Beheer von Hermann Hertzberger ist noch bestens erhalten, am Kulturzentrum De Flint in Amersfoort von Ono Greiner aus dem Baujahr 1977 zeigten sich deutlich die Schwächen der strukturalistischen Architektur. De facto erwiesen sich die Module mit einer Breite von 6,20 Meter als ziemlich unflexibel für nachträgliche Veränderungen, außerdem wünschten sich die Betreiber des Kulturzentrums mehr Repräsentation. Nach einem Brand war es aufgestockt und um ein hohes neues Auditorium mit Zuschauerraum und goldener Kuppel erweitert worden.  Auch die Fassade wurde in Gold gestrichen, um ihr mehr Bedeutung zu verleihen. Grundsätzlich aber hat die Strömung durchaus Substanz: „Wahrer Strukturalismus beschäftigt sich mit jenen Aspekten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten und jenen, in denen sie sich unterscheiden“, zitiert Bernhard Denkinger Hermann Hertzberger aus dessen Buch „Architecture and Strucuralism. The Ordering of Space“, Rotterdam 2015. Das Interview, das er am 18. April 2018 mit ihm geführt hatte und das hier auch nach zu lesen ist, zählt zu den interessantesten Passagen dieses Buches. Strukturalistische Tendenzen lassen sich bis in die Gegenwart finden: So ortet sie Bernhard Denkinger in der Fakultät für Informations- und Elektrotechnik der Technischen Universität Graz von Riegler Riewe, 2000 und in der Philharmonie in Szcezin von Barozzi Veiga, 2018. Der Strukturalismus ist also nicht tot – seine Gestaltungsprinzipien der seriellen Addition und des Einsatzes wiederkehrender Elemente werden bis heute angewandt. Als Fazit dieses Buches bleibt: Eine Wiederbegegnung mit einer vergangenen Strömung, die zu Unrecht vergessen und weniger vergangen ist, als man gemeinhin annimmt.

Fakultät für Informations- und Elektrotechnik der Technischen Universität Graz, Riegler Riewe Architekten, 2000 Foto: Bernhard Denkinger

Fakultät für Informations- und Elektrotechnik der Technischen Universität Graz, Riegler Riewe Architekten, 2000 Foto: Bernhard Denkinger

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