Über österreichische Bauordnungen

Weiche Paragrafen, tiefe Schlupflöcher

Millennium Tower, Wien © Public Domain

Die Wiener Liebe zur Situationselastik ist ein Klischee mit hohem Wahrheitsgehalt. Gerne erzählt man sich die schöne Geschichte über einen Magistratsbeamten Ende des letzten Jahrhunderts, der auf die Frage einer ungeduldigen deutschen Architektin, ob ihr Projekt denn nun genehmigungsfähig sei oder nicht, antwortete: „Wann’S mi jetzt fragen, nein. Aber später … schau ma mal!“ Mehr als eine hübsche Anekdote, denn die zugrundeliegende Geisteshaltung fand Eingang in so manchen Gesetzestext. Jahrelang musste man kein Experte in allen Feinheiten der Wiener Bauordnung sein, um ihren berüchtigtsten Paragrafen im Schlaf hersagen zu können. Ganz klar, das konnte nur der Paragraf 69 sein, vulgo „Der Neunundsechziger“.


Dieser Paragraf erlaubte eine „unwesentliche Abweichung von genehmigten Plänen“, was in typisch Wiener Situationselastik zu Auslegungen des Wortes „unwesentlich“ führte, die deutlich vom jeweiligen Projekt und den involvierten Partikularinteressen abhängig waren. Bis heute ragen 31 unwesentliche Höhenmeter am Donauufer in die Wiener Skyline, denn der Millennium Tower durfte dank kreativer Paragrafenauslegung 171 Meter anstatt der bewilligten 140 Meter hoch werden. Immerhin wurde in Folge dieser besonders extremen Unwesentlichkeit der Neunundsechziger in der Bauordnungsnovelle 2008 verschärft. Er blieb nicht der einzige Fall sich immer wieder auftuender legaler Schlupflöcher.

2022 wurde Paragraf 71 der Wiener Bauordnung zum Opfer einer kreativen Auslegung, als er dafür verwendet wurde, die Errichtung der Sport-und-Fun-Halle auf einer Wiese in der Venediger Au zu legitimieren. Vorgesehen ist er eigentlich für „Bauwerke, die vorübergehenden Zwecken dienen oder nicht dauernd bestehen bleiben können“ und die „auf eine bestimmte Zeit oder auf Widerruf“ bewilligt werden dürfen. In der Auslegung der Wiener SPÖ war durch das Fehlen einer in Wien offenbar unerlässlichen Halle für Sport und Fun ein triftiger Grund für die Aktivierung des 71ers gegeben, nachdem man die bisherige Halle nahe dem Stadion abgerissen hatte. Die Grünen vermuteten Amtsmissbrauch und klagten gegen die Baupolizei (MA 37). Ende 2022 wurde die Klage abgewiesen, und die nunmehr legal befristete Halle harrt vorfreudig einer Umwidmung, die ihr die dauerhafte Existenz beschert. Wir erinnern uns: „Jetzt nicht – später … schau ma mal“.

Zuletzt sorgten von Steuergeld finanzierte Studien, die unveröffentlicht in den Schubladen der Stadt Wien verschlossen sind, für Aufregung. Wie die Stadtzeitung FALTER recherchierte, bleiben mehr als 60 dieser beauftragten Studien der Öffentlichkeit vorenthalten, ...

Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 11/2023. Der Volltext ist ab Seite 14 zu finden.


 

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