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Wohnungsbau: Ein gesamtgesellschaftliches Projekt

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Der Wohnungsbau repräsentiert in typischen europäischen Ländern rund die Hälfte des gesamten Bauvolumens. So würden sich breit durchgesetzte Innovationen auf diesem Sektor zweifellos am effizientesten auswirken, wenn baukultureller Fortschritt erzielt werden soll. Wäre da nicht die Individualisierung, die uns seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung garantiert.


 

Der größte Bausektor ist gleichzeitig auch der am meisten ausdifferenzierte. In den europäischen Wohlfahrtsnationen ist das Spektrum an Lebensweisen, die sich in bestimmten Bauweisen ausdrücken, sehr breit. Es reicht von den Elendshütten der Roma (ja, die gibt es immer noch) über Bauernhöfe und Almhütten, freistehende Einfamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser, am Land und in der Stadt, neugebaute und umgenutzte Strukturen bis hin zu den urbanen Wohnformen des Geschosswohnbaus, die wiederum komplex unterteilt sind in Eigentums- und Mietwohnungen sowie zahllose Dichte-Varianten von Häusern mit wenigen Wohneinheiten bis hin zu ganzen Hochhaus-Parks. Dazu kommen noch die Kriterien von Ort und Zeit, nach denen man Wohnungen ebenfalls differenzieren könnte: Zusätzlich zu den statischen und permanenten Wohnformen gibt es auch temporäre und mobile.

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Die kulturhistorische Wurzel dieser enormen Vielfalt ist einmal mehr die Industrialisierung, die gleichzeitig mit der politisch-philosophischen Bewegung der Aufklärung begann und im Duett mit dieser das Leben der Menschen gründlich verändert hat. Vor der Industrialisierung war „Wohnen“ eigentlich kein Thema, schon gar keines der Baukultur, die als Repräsentationsform den Herrschenden vorbehalten war. Das „Wohnen“ als eigenständigen Baubedarf gab es nicht, weil es untrennbar an das Arbeiten gebunden war. Wo man arbeitete, da aß und schlief man auch. Niemand nannte das „Wohnen“, sondern höchstens eine Behausung. Alles fand unter einem Dach statt, sei es das Bauernhaus, wo die Bauersleute mit Familie und Gesinde gemeinsam arbeiteten und wohnten, oder das Stadthaus, wo Bürgersfamilien über ihren Kaufläden und Lagerräumen wohnten. Das Landschaftsbild änderte sich jahrhundertlang kaum und war fast ausschließlich ländlich geprägt. Großstädte gab es nicht (sie sind ja erst eines der Produkte der Industrialisierung), nur kleine und mittlere Städte, die auch nicht allzu stark anwuchsen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich mit einer zögerlichen Industrialisierung des Bauens, mit Partizipation und Ökologisierung drei Megatrends entwickelt, die allesamt mit Grundrechten zu tun haben und die uns noch jahrzehntelang beschäftigen werden.

 

Die Industrialisierung brachte in Bezug auf das Wohnen eine radikale Entwurzelung. Knechte und Mägde, die früher in irgendwelchen Winkeln der Hofgebäude eines Bauern gehaust hatten, gingen nun in die Stadt, um dort in Fabriken zu arbeiten. Sie wurden Arbeiter und es entstand das Proletariat. Und Wohnraum wurde erstmals zur handelbaren Ware. Denn wenn der Fabriksbesitzer keine Wohnhäuser für seine Arbeiter und ihre Familien gebaut hatte, was eher die Regel als die Ausnahme war, dann mußten sich diese Entwurzelten in spekulativ errichteten „Mietskasernen“ durch absurd hohe Mieten bei niedrigstem Standard ausbeuten lassen. Oder sie hausten in selbstgebauten Elendshütten, die jederzeit von der Vertreibung durch den Grundbesitzer bedroht waren. Oder gleich am Arbeitsplatz wie die zugewanderten „Ziegelböhm‘“ in Wien, die in den Ziegelfabriken auf den Öfen schliefen. So entstand im 19. Jahrhundert die politische Arbeiterbewegung, die diese desaströsen Sozialverhältnisse – zumindest in Mietteleuropa – unter anderem in der langen Geschichte des sozialen Wohnbaus sanierte.

Früher Arbeiterwohnbau in England Die Industriestadt Saltaire, ab 1845 gebaut von Sit Titus Salt (c) WikiCommons, Smon Cobb

Früher Arbeiterwohnbau in England: Die Industriestadt Saltaire, ab 1845 gebaut von Sir Titus Salt (c) WikiCommons, Simon Cobb

Doch wo stehen wir heute? Die gesellschaftspolitische Frage, ob Wohnen ein Grundrecht ist oder ein Wirtschaftsfaktor, schien nach dem Ende des Sowjet-Sozialismus klar entschieden. Allerdings experimentiert man heute in mehreren europäischen Ländern wieder mit verschiedenen Modellformen des garantierten und von Erwerbsarbeit unabhängigen Grundeinkommens. Zum Recht auf ein Grundeinkommen könnte sich auch das Recht auf Wohnen gesellen sowie weitere Sozialrechte wie jenes auf Gesundheitsversorgung, das etwa in Österreich längst Realität ist. Klar scheint jedoch zu sein, dass der Staat selbst wohl nie ein „Wohnrecht“ garantieren kann. Würde er etwa Wohnbauunternehmen direkt mit Errichtung und Betrieb von ausreichend vielen Wohnhäusern beauftragen, würde dies rasch in den Staatsbankrott führen und der Korruption beim Bau sowie der Verwahrlosung und Ghettoisierung im Betrieb Tür und Tor öffnen.

Die meisten europäischen Staaten haben daher pragmatische bis liberale Formen einer milden Regulierung des Wohnbaus gewählt. Mit einem großen Toolkit, der von Widmungsauflagen über Förderbedingungen bis zur steuernden öffentlichen Infrastruktur reicht, schafft es die Politik in der Regel, den Wohnbau zur Zufriedenheit der meisten zu regulieren. Doch das Gebilde ist fragil. Migrationswellen können es ebenso ins Wanken bringen wie Wirtschafts- und Umweltkrisen. Aktuell stehen wir etwa vor der gewaltigen Herausforderung des Umbaus des Wohnhausbestands von Energiekonsumenten zu -Produzenten. Dazu folgt in einem eigenen Beitrag demnächst Detaillierteres. Alleine diese Aufgabe ist ein Projekt für eine ganze Generation an Technikern, Unternehmern und Politikern. Eine weitere aktuelle Herkulesaufgabe ist die Frage der Raumordnung und – in direktem Zusammenhang damit – jene nach dem gerade noch „legitim“ erscheinenden Individualisierungsgrad. Beim Wohnen kommen wir nämlich neben dem physischen Grundbedürfnis auch rasch zum Grundrecht auf individuelle Selbstverwirklichung. Dieses drückt sich oft im Wunsch nach dem eigenen freistehenden Einfamilienhaus im Grünen aus und löst damit ein massives Raumordnungsproblem aus sowie die Frage nach einer gerechten Verteilung der Ressourcen.

Historische Altstadt in Frankreich (c) Pixabay alley-2995354_1280

Können alte Häuser zu Energieproduzenten werden? Historische Altstadt in Frankreich (c) Pixabay alley-2995354_1280

Wir müssen uns daher auch kritisch die Grundfrage nach der Sozialverträglichkeit gängiger Individualisierungsformen stellen, die im Grunde gar nicht so „individuell“ sind, sondern eigentlich nur Lebensweisen aus der Konserve wiederholen. Doch wer maßt sich an, das zu beurteilen und womöglich einzuschränken? Es wäre zweifellos ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, der entsprechend breit diskutiert werden müsste. Einerseits kann es kein Recht auf das eigene Haus im Grünen geben und andererseits gibt es auch in kollektiven Wohnformen zahlreiche Individualisierungsmöglichkeiten, wo generische Bautypen diese Möglichkeit schaffen.

Kaum jemand wird sich beispielsweise darüber beschweren, dass er sich in einem Gründerzeit-Mietshaus mit großen Wohnflächen und Raumhöhen nicht ausreichend selbst verwirklichen kann, sofern er nicht mit Lärm- und anderen Emissionen offensichtliche Ärgernisse für andere produziert. Ein weiteres menschliches Grundverhalten ist von der Debatte über das „Recht auf Selbstverwirklichung“ betroffen: Die Mobilität. Denn wenn wir bestimmten Aktivitäten (ob aus Notwendigkeit oder Lust) an einem Ort nicht nachgehen können, dann gehen wir an einen anderen. Auch dieses Recht auf Selbstverwirklichung hat jedoch seine Grenzen – derzeit vor allem ökologische.

Damit wird klar: Wohnbau kann nie isoliert betrachtet werden. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich mit einer zögerlichen Industrialisierung des Bauens, mit Partizipation und Ökologisierung drei Megatrends entwickelt, die allesamt mit Grundrechten zu tun haben und die uns noch jahrzehntelang beschäftigen werden. Jede Wohnbaureform ist daher ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das auch als solches aufgesetzt werden muss, um Erfolgschancen zu bieten.

Gründerzeitwohnbau in Berlin (c) Wiki Commons, R. Möhler

Gründerzeitwohnbau in Berlin (c) Wiki Commons, R. Möhler

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