Tikkurila Kirche in Vantaa, Finnland
In Finnland spielt der Sakralbau bis heute eine wichtige kulturelle und soziale Rolle. Ein zeitgenössischer Meister auf diesem Gebiet ist der Architekt Anssi Lassila. Bei der Tikkurila Kirche in der Großstadt Vantaa, seinem fünften sakralen Entwurf, hat er das Gotteshaus mit einem Wohnbau verbunden. Auch städtebaulich ist der markante Block ein großer Gewinn.
Lebendige Tradition
Dass der Kirchenbau nach wie vor eine bedeutende Bauaufgabe ist, beruht auch darauf, dass er in der überwiegend jungen finnischen Architektur die längste Kontinuität hat. Ein herausragendes historisches Zeugnis ist die 1765 vollendete, als Weltkulturerbe geschützte Holzkirche von Petäjävesi. Von Alvar Aalto und Erik Bryggman bis hin zu Aarno Ruusuvuori und Juha Leiviskä haben sich alle wichtigen finnischen Architekten der Moderne dem Sakralbau gewidmet – ebenso zwei Architektinnen: Elissa Aalto, die zweite Frau des Meisterarchitekten, und Kaija Sirén. Schon für Alvar Aalto lag der Reiz sakraler Aufgaben darin, besonders freie, humanistisch inspirierte Raumvorstellungen verwirklichen zu können. Die Tradition, im Kirchenbau das Erhabene und Feierliche auszudrücken, hat sich bis in die unmittelbare Gegenwart fortgesetzt. In der jüngeren Generation ist ein Name hervorgetreten: der 1973 geborene Anssi Lassila. Seine ersten Bauten entwarf er zusammen mit seinem Partner Teemu Hirvilammi, ehe er 2014 im provinziellen Seinajöki sein eigenes Büro OOPEAA (Office for Peripheral Architecture) gründete, das mittlerweile in Helsinki einen zweiten Sitz hat.
Kirchenbau als Städtebau
Die seit dem Zweiten Weltkrieg um die Hauptstadt Helsinki herum entstandenen Großstädte Espoo im Westen und Vantaa im Norden zeichnet noch immer ein Mangel an Urbanität aus. Es sind eher besiedelte Agglomerationen mit einigen Hochpunkten, durchzogen von breiten Verkehrsschneisen. Vantaa wächst weiterhin, weil auf seinem Gebiet der internationale Flughafen von Helsinki liegt. Die Stadtverwaltung will vor allem das Zentrum verdichten, das im Stadtteil Tikkurila liegt. Da kam im Jahr 2017 der Wettbewerb für die neue lutherische Kirche gerade recht. Im zweistufigen Verfahren siegte schließlich die Planungsgruppe aus der Kirchengemeinde als Bauherr, dem Bauträger Lujatalo und dem Architekturbüro OOPEAA. Für das Gelände, auf dem der bis dahin freistehende Kirchenbau aus dem Jahr 1956 wegen Bauschäden abgetragen wurde, schlug Anssi Lassila eine grundlegende Transformation vor:
Das in seinem Volumen kleinere Gotteshaus ist fugenlos verbunden mit einem mächtigen Block für gefördertes und studentisches Wohnen. Allerdings besetzt die Kirche, auf deren höchstem Punkt ein goldfarbenes Kreuz leuchtet, die prominente Nordostecke zum Stadtplatz hin. Auch durch das Zick-Zack-Profil der gegenläufigen Pultdächer ist eine Anlage entstanden, die dem Zentrum der weitläufigen Stadt eine unverwechselbare Erscheinung gibt. Nur selten erlebt man einen neuen Kirchenbau mit einem derart überzeugenden städtebaulichen Gewinn. Zu Recht steht die Tikkurila Kirche auf der Shortlist für den Mies van der Rohe-Preis 2022.
Materialität und Multifunktionalität
In dem über Eck liegenden Kirchensaal mit Plätzen für 520 Personen, der bis zu einer Höhe von 20 m aufragt, bestimmen für die heutige finnische Architektur typische Materialien die Atmosphäre: Es ist die Dialektik von neutral erscheinendem Sichtbeton und warm wirkendem Holz. Belichtet wird der unterteilbare Saal im Erdgeschoss durch die mit Sichtschutzlamellen versehenen Glaswände, in den höheren Bereichen durch unterschiedlich große, versetzt angeordnete Fenster, die tagsüber auf den Wänden ein Lichtspiel auslösen.