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Bauen gegen den Strom – ein Einstieg ins Gender Mainstreaming

Der Modulor, ein in den Jahren 1942–1955 entwickeltes Maßsystem, ist einem 1,80 m großen Mann nachempfunden und wurde von Le Corbusier zur Etablierung menschlicher Maße in der Architektur entwickelt. Auch wenn er sich nie als allgemeine Maßeinheit der Architektur durchgesetzt hat, so veranschaulicht der Modulor doch eine oft erlebte Realität: eine gebaute Umwelt von Männern für Männer.

Abbildung des Modulor auf Schweizer Münze, 1987 Le Corbusier, Münzkabinett Berlin.

Als Werkzeug gegen eine einseitige (rein männliche) Weltsicht sieht sich das sog. Gender Mainstreaming. Mainstreaming bezeichnet laut Definition den Prozess, durch den etwas beginnt, als normal angesehen zu werden – Gender Mainstreaming bedeutet hier also, die Berücksichtigung aller Gender in Entscheidungsprozesse, als Status quo zu etablieren. Auf europäischer Ebene ist Gender Mainstreaming mit dem Amsterdamer Vertrag seit 1999 als bindende politische Strategie für jede Form von öffentlicher Governance festgeschrieben.

In der Architektur und Raumplanung bedeutet dies konkret die Berücksichtigung „weiblicher“ Alltagsabläufe und Bedürfnisse, die sich insofern von „männlichen“ Tagesabläufen unterscheiden, dass Frauen auch heute noch den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit leisten. Durch diese Aufgaben des Versorgens, Pflegens und Betreuens – oft in Kombination mit einer zusätzlichen Erwerbstätigkeit – entstehen komplexe Alltagsmuster und Bewegungsabläufe, die von einer männlich dominierten Planungsperspektive lange nicht berücksichtig wurden. Auch wenn frauengerechte Planung vorrangig auf die Alltagserleichterung von Frauen (als überwiegend versorgende Bevölkerungsgruppe) abzielt, so ist das Ziel dennoch die Alltagserleichterung einer Gesellschaft, in der sich alle Mitglieder gleichermaßen für Sorgearbeit verantwortlich fühlen.

Die Stadt Wien hat hierzu, unter der Leitung der Initiatorin Eva Kail, eine eigene Leitstelle für „Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen“ eingerichtet, welche Richtlinien vorgibt, die von PlanerInnen, die öffentliche Gelder beanspruchen möchten, berücksichtigt werden müssen – und nimmt damit eine Vorreiterstellung in Europa ein:

Lange Zeit war der ‚versorgte‘, ausschließlich erwerbstätige – und damit vorwiegend ‚männliche‘ – Alltag die zentrale Perspektive der Planung. Der Blickwinkel von Personen, die Haus- und Familienarbeit nachgehen, also einen ‚versorgenden Alltag‘ haben, und derjenigen, die noch oder wieder zu versorgen sind, wurde systematisch ausgespart und der Wohnwert vorwiegend nach dem Erholungs- und Freizeitwert beurteilt.

Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen, Stadt Wien

 

Wohnbau

So sollen etwa die Grundrisse von Wohnbauten flexibel gestaltet sein und unterschiedliche Familienkonstellationen und Lebensphasen zulassen sowie alle Arbeits- und Aufenthaltsräume ausreichend und natürlich belichtet werden. Idealerweise sollten Aufenthalts- und Arbeitsräume Blick- und Rufkontakt zu Spielflächen in und außerhalb der Wohnung bieten, um die Kinderbetreuung im Arbeitsalltag zu erleichtern, was natürlich ein Vorhandensein sicherer Spielflächen voraussetzt. Gemeinschaftsräume sollten sinnvoll in die Planung integriert werden und die Architektur das Bilden nachbarschaftlicher Beziehungen unterstützen – ein soziales Netz der BewohnerInnen kommt vor allem Alleinerziehenden zugute. Ein oft genanntes Best Practice Beispiel des frauengerechten Wohnbaus ist die Wiener „Frauen-Werk-Stadt I“, welche auch heute noch die größte gendersensibel geplante Wohnhausanlage Europas ist.

Freiraumgestaltung

Eine Wiener Studie Ende der 1990er, belegt eine Verdrängung von Mädchen ab einem Alter von etwa neun Jahren aus öffentlichen Parkanlagen und Spielflächen, da diese in ihrer Raumaneignung tendenziell zurückhaltender agieren als Burschen. Aus dieser Studie gingen die beiden Pilotprojekte „Einsiedlerpark“ und „Bruno-Kreisky-Park“ hervor, sowie eine Standardisierung gendersensibler Parkgestaltung der Stadt Wien. Dies bedeutet u.a. eine Gliederung der Parkanlagen in leichter aneigenbare Teilräume, die sowohl Rückzugmöglichkeit, aber auch exponierte Aufenthaltsorte umfassen. Zudem sollte vermehrt auf das Aktivitätsspektrum von Mädchen eingegangen werden und Volleyballspielen, als beliebter Sport für Mädchen und Burschen gleichermaßen, dem klassischen „Fußballkäfig“ vorgezogen werden. Spielgeräte sollten multifunktional, wenn möglich integrativ sein und so angeordnet werden, dass die Zugänglichkeit für alle NutzerInnen gegeben ist. Zudem erleichtern öffentliche Toilettenanlagen einen längeren Aufenthalt für Mädchen und Frauen...

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