Wo sind die Visionen?

Covid-Blog (aka Change-Blog) # 4

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Kurz nach dem vorläufigen Ende der Ausgangsbeschränkungen am 1. Mai 2020 ist es für den Architektur- und Baubetrieb allerhöchste Zeit, die langfristigen Auswirkungen der Krise auf die Umweltgestaltung endlich messbar zu machen, um damit planen zu können. Wir brauchen von Politik, Developern und ArchitektInnen jetzt dringend Visionen, konkrete Vorhaben und eine Roadmap des „Wiederaufbaus“.


 

Abseitig. Im Off. Unwichtig. Nebensächlich.

Eine größere Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung ist kaum vorstellbar: Konnte der Postmoderne-Pionier Hans Hollein noch in den 1960er Jahren behaupten: „Alles ist Architektur“, so erscheint die Disziplin heute offenbar nur mehr als eine skurrile Randerscheinung und verzichtbare Orchideen-Profession. Etwa im deutschen TV-Kanal ARD, wo die Moderatorin eines „After Corona Clubs“ im April 2020 drastisch formulierte: „Man kann es abseitig finden, sich mit dem Thema der Architektur nach der Krise zu beschäftigen.“ Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Abseitig. Im Off. Unwichtig. Nebensächlich. Architektur wird als Liebhaber- und Nischen-Sparte betrachtet, die in Krisenzeiten vollkommen irrelevant ist. – Was läuft da schief? Warum hören wir auch in österreichischen Medien zur Coronakrise nur Politiker, Mediziner, Vertreter der Exekutive, Hoteliers, Kabarettisten und frustrierte Kulturveranstalter?

Architektur als abseitige Disziplin © ARD

Architektur als abseitige Disziplin © ARD

Haben einflussreiche Immobilienunternehmen, große Baufirmen, kreative ArchitektInnen und IngeneurInnen sowie Schlüsselindustrien (Haustechnik, Baumaterialien) keinerlei gesellschaftliche oder wirtschaftliche Relevanz? Schaffen sie nicht zig-tausende Arbeitsplätze? Ist es egal, wie unsere Umwelt aussieht, ob sie krisen-fit ist und sich nach der nächsten Krise als resilient erweist? Und wo ist die angeblich so potente Bau-Lobby?

Längst müsste jetzt die Blaupause des 'Wiederaufbaus' auf dem Tisch liegen. Wir wissen nicht, wo das versteckte Architekturbüro liegt, das sie zeichnet – soferne es dieses überhaupt gibt. Zu befürchten ist, dass es ebensowenig existiert wie die große Idee, die der Bauherr den Planern des Wiederaufbau-Hauses als Ziel vorgeben müsste.

 

katastrophales Standing

Tatsache ist, dass die Bauschaffenden sich im aktuellen Diskurs keine Stimme verschafft haben und daher auch nicht gehört werden. Woran liegt das? Simple These, die man jedoch nicht als Ausrede mißbrauchen sollte: Es liegt an der Komplexität der vielen Disziplinen, die an der Gestaltung unserer Umwelt beteiligt sind. An ihren oft gegensätzlichen Interessen (Auftraggeber-Planende-Ausführende-Industrie) und ihrer Unfähigkeit, in der Öffentlichkeit gemeinsam und geschlossen aufzutreten. Am daher allgemein fehlenden Bewusstsein, dass Umweltgestaltung mehr ist als bloß Bauen, mehr als Immobilienwirtschaft, mehr als ästhetischer Genuss für Kultur-Bobos. Am aktuellen katastrophalen Standing des Bauwesens in der Öffentlichkeit (jedes Provinztheater scheint derzeit wichtiger zu sein als dieser Multi-Milliarden-Betrieb) wirken aber auch die Beteiligten selbst mit. Sie haben keine Visionen – oder sie behalten diese konsequent für sich. Sie können oder wollen nicht erklären, wie die Welt der Zukunft aussehen muss, damit Pandemien und andere Krisen besser zu bewältigen sind. Sie beschäftigen sich nur mit sich selbst und wie sie die Krise überleben, statt – entsprechend der Verantwortung und einem erwartbaren Berufs-Ethos der Bauschaffenden – auch dem Rest der Bevölkerung zu helfen und aufzuzeigen, was jetzt zu tun ist. Immobilienunternehmer erklären uns nicht, wie die Wohnung der Zukunft aussehen wird (bislang hörten wir nur die phantasielose Banalität, dass der Trend zum Single-Haushalt trotz allem weiterginge). Architekten erklären nicht öffentlich wahrnehmbar, wie die multifunktionale, grüne und krisenfeste Stadt der kurzen Wege – oder ein nach Jahrhunderten der Urbanisierung ausgedünnter und demoralisierter ländlicher Raum – in naher Zukunft aussehen könnten und müssten. Die großartige heimische Industrie erklärt nicht, dass sie durchaus in der Lage ist, mit lokalen Ressourcen, Personal und smarter, grüner Technologie Produkte herzustellen, die im Wandel des Bauwesens dringend benötigt werden.

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Nur wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel – etwa ein kluges Interview, das der große österreichische Holzbau-Pionier Roland Gnaiger jüngst dem Radiosender Ö1 gab: Gnaiger zeigte klar auf, dass die Covidkrise „nur“ eine Teilkrise der Klimakrise ist. Er stellte fest, dass das Allermeiste, das wir in den vergangenen Jahrzehnten gebaut haben, materialtechnisch betrachtet nur temporär gelagerter Sondermüll sei. Ermutigenderweise sprach er aber auch von einem geschätzten 30 Prozent-Anteil des Holzbaus am aktuellen österreichischen Bauvolumen.

Orakel-Charakter

Man kann die schweigenden und visionslosen Player des Bauwesens aber auch verstehen. Die oben angesprochene Komplexität der Umweltgestaltung mit ihren vielen (derzeit leider noch) völlig unterschiedlich orientierten Teilgruppen hat nämlich starke Auswirkungen auf die Prognosefähigkeit des Sektors. Gerade in nicht exakt prognostizierbaren Phasen wären aber Visionen doppelt gefragt – einmal als Zielvorgabe (wo kein konkretes Ziel, da keine geordnete Entwicklung in diese Richtung) und zweitens auch als Ersatznahrung auf dem Weg dorthin, wenn man schon keine belastbaren Zahlen konsumieren kann. Ein weiterer Aspekt: Belastbare Prognosen über die Entwicklung einzelner Branchen werden aufgrund der extremen Vernetzungen unserer hochentwickelten Wirtschaft umso schwieriger und unschärfer, je größer diese Wirtschaftszweige sind. Und gewinnen vollends eine Art Orakel-Charakter, wenn man versucht, gleich mehrere besonders eng vernetzte Branchen zusammenfassend zu betrachten – womöglich sogar sektorenübergreifend zwischen primären, sekundären und tertiären Wirtschaftsbereichen, wie das gerade im Bauwesen nötig ist.

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Denn zu diesem tragen sowohl primäre Wirtschaftsformen bei (landwirtschaftliche Infrastruktur) als auch sekundäre (die Bauindustrie im engeren Sinne) und tertiäre (alle Dienstleistungen, die damit zu tun haben, etwa Planungsleistungen). Genau diese transsektorale Betrachtungsweise ist aber jetzt nötig, wenn man – mit Rückenwind der nun aufbrechenden Grundsatzdebatten über unsere Lebensweisen – nicht mehr bloß über einzelne Partikularinteressen jener sprechen will, die an der Umweltgestaltung beteiligt sind. Diese umfasst wesentlich mehr als „nur“ Investoren, Planende, Ausführende und Industrie. Sie wurzelt in den menschlichen Verhaltensweisen, die in enger Wechselwirkung mit ihr stehen und letztlich unser gesamtes Wirtschaftssystem bestimmen.

Der nötige Wandel, die Änderung unserer Lebensweisen (natürlich ohne auf etwas Wertvolles zu verzichten, aber mit dem Gewinn vieler intelligenter, neuer, schöner und grüner Technologien) kann langsam oder auch schneller voranschreiten, aber definitiv muss er kommen. Wir werden ihn auch in Form eines Strukturwandels beobachten können – sowohl in horizontaler Perspektive (Umsätze verschieben sich von einer Branche in eine andere, das gesamte BIP bleibt aber gleich oder wird größer) als auch in vertikaler (die einzelnen Branchen erschließen zusätzliche neue Geschäftsbereiche). Auch hier zeigt sich, dass traditionelle Wirtschaftsstatistiken nur begrenzt brauchbar sind: Isolierte Betrachtungen sind in fragmentierten und zugleich hochvernetzten Systemen schlicht sinnlos.

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Beispielsweise würde uns ein niedriger Auftragsstand der großen industriellen Bauunternehmen mit ihren vorwiegend nicht-heimischen Bauarbeitern viel weniger Sorgen bereiten, wenn wir wüssten, dass gleichzeitig viele kleine Baugewerbeunternehmen (Zimmereien, kleine Baumeisterbetriebe, Dachdecker, Fassadenbauer), die viel lokale Wertschöpfung betreiben und lokale Arbeitsplätze schaffen, sich dank einer neuen, verantwortungsvollen Developer-Generation über volle Auftragsbücher freuen dürfen und wachsen können. Oder wenn große Immobilieninvestoren über den Nachfragerückgang bei klassisch monofunktionalen Bürobauten klagen, während zugleich viele gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften aufgrund veränderter Kundenerwartungen und Fördersysteme plötzlich mehr und besser planen und bauen könnten. Oder wenn plötzlich die fossile Energiewirtschaft (Öl, Gas…) weniger liefern würde, aber gleichzeitig die Ziegel-, Stein- und Holzindustrie mehr massive, Wärme und Kälte speichernde Baustoffe produzieren dürfte. Oder wenn, um ein fiktives Beispiel aus der Planerbranche zu konstruieren, einige große, etwa auf Büro- und Handelsimmobilien spezialisierte Architekturbüros nun ein bißchen weniger zu tun hätten, während die Beschäftigtenzahl in flexiblen Allround-Planungsunternehmen, die über das klassische Berufsbild hinaus agieren, sich auch mit dem Management partizipativer Prozesse befassen und zahlreiche Fachleute verschiedenster Ausrichtung beschäftigen, ebenfalls aufgrund eines stark veränderten Marktes stark erhöht werden würde.

Wäre dieses – wie gesagt fiktive – Szenario tatsächlich Realität, dann könnten wir von einem erfreulichen Strukturwandel der gesamten nationalen Umweltgestaltung und damit einem guten Teil der Gesamtwirtschaft sprechen. Wir wären dann tatsächlich „gestärkt aus der Krise herausgegangen“, wie es uns manche Politiker als Sehnsuchtsbild, das wir ja gerne glauben würden, derzeit ausmalen. Gleichzeitig rechnet man jedoch mit fünf bis zehn Prozent Rückgang des Weltwirtschaftsprodukts und derzeit (Mai 2020) mit rund sieben Prozent des österreichischen. Zwischen Hoffnungsbild und Realität klafft also eine große wirtschaftliche und zeitliche Lücke.

© pixabay, businessman-3213659_1920

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Blaupause des „Wiederaufbaus“

Bedenklich ist, dass bisher kein Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer oder Künstler mit einer konkreten Roadmap für die nun bevorstehende Durststrecke durch diese Wüste aufwarten konnte. Längst müsste jetzt die Blaupause des „Wiederaufbaus“ auf dem Tisch liegen. Wir wissen nicht, wo das versteckte Architekturbüro liegt, das sie zeichnet – soferne es dieses überhaupt gibt. Zu befürchten ist, dass es ebensowenig existiert wie die große Idee, die der Bauherr den Planern des Wiederaufbau-Hauses als Ziel vorgeben müsste.

 

Recherche-Unterstützung: Gudrun Hausegger, Klara Jörg, Arian Lehner, Bernd Mandl

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