Die Prinzipienreiter
Infrastrukturprojekte laufen aus dem Ruder, die Deutsche Bahn ist ein Desaster. Auf der anderen Seite stehen Gründlichkeit und gute Debattenkultur. Ein Essay über die Planungslandschaften Deutschlands.
Präzision, Effizienz, DIN-Normung bis in den letzten Lebensbereich: Lange Zeit waren diese Eigenschaften so klischeehaft deutsch, dass man ganze Kabarettabende damit füllen konnte. Diese Zeiten sind vorbei. Fuhr man vor 25 Jahren mit der Bahn von Deutschland nach Österreich, kam das einem Wechsel von einem Land der kühlen Hightech in eines mit charmanter Patina gleich, in dem es hier und da ein bisschen aussah wie in den 1960er Jahren in Deutschland. Fährt man heute mit der Bahn in die umgekehrte Richtung, gerät man ab Freilassing in ein Territorium, in dem die Regeln außer Kraft gesetzt sind und augenscheinlich Anarchie herrscht. Zugausfall, Verspätung, geänderte Wagenreihung, ausgefallene Heizung, Triebwerksschaden. Das mobile Internet verabschiedet sich ebenfalls. Deutschland, ein infrastruktureller Notfallpatient.
Wie konnte es soweit kommen? Warum geraten in einem Land der Erfinder, das uns technische Wunderwerke wie Frei Ottos Münchner Olympia-Dach geschenkt hat, Großprojekte wie der Berliner Flughafen und der Stuttgarter Bahnhof zu geldverschlingenden Endlosbaustellen? Möglicherweise liegt es an der Planungskultur und Mentalität, deren Übergenauigkeit sich heute als Hindernis erweist. Im Jahr 2019 berichtete die Wochenzeitung DIE ZEIT, warum sich ausgerechnet Deutschland als Schmuddelkind transalpiner Bahnprojekte erwies. Ein Manager der Deutsche Bahn AG beschrieb es folgendermaßen: „Die Deutschen haben immer sehr viel darüber geredet, was alles nicht geht. Die Österreicher hatten die Haltung: Das sehen wir später, wenn wir das Problem lösen. Und die Schweizer meinten: Wir möchten das und das erreichen, lasst uns jetzt klären, wie.“
Ein weiteres Indiz: Deutschland investierte 2017 pro Kopf 69 Euro in die Schiene, Österreich 187 und die Schweiz 362. Die Zulaufstrecke zum Brennerbasistunnel wurde in Deutschland jahrelang nicht angerührt, weil man erst abwarten wollte, ob Österreich und Italien den Tunnel überhaupt zustande bringen würden. Jetzt wird am Tunnel gebohrt, die Hochgeschwindigkeitsstrecke der ÖBB im Inntal ist fertig, und in Deutschland – ist nichts passiert...
Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 12/2023. Der Volltext ist ab Seite 12 zu finden.