Die Tiroler Moderne
Die Coronakrise hat im Frühjahr 2020 viel Aufmerksamkeit auf das Tourismusland Tirol gelenkt – einer von vielen Gründen, sich erneut die Leistungen seiner klassisch-modernen Architekten in Erinnerung zu rufen. Sie realisierten eine intelligente Balance zwischen Avantgarde, Tradition und neuen Technologien auf hohem baukulturellem Niveau.
Unter den vielen regionalen Spielarten der Moderne Europas und Österreichs repräsentiert jene von Tirol eine besondere Position: Die Lage im Herz der Alpen, aber auch im Schnittpunkt der großen Nord-Süd- sowie Ost-West-Achsen des kulturellen Transfers hatte jahrhundertealte autochtone Lebensweisen entlegener Talschaften stets mit den modernsten Strömungen aus den großen Metropolen Italiens, Frankreichs und Deutschlands konfrontiert. Dabei entstanden regelmäßig prototypische Lösungen der Frage nach dem Verhältnis der Moderne zur Tradition: Tirol beantwortete sie stets auf eine sachliche und konstruktive Weise, die zu einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Modernisierung der Lebensverhältnisse führte. Das lässt sich auch an der qualitätsvollen modernen Kunstproduktion des Landes klar ablesen. Tourismus, Alpintourismus, Massentourismus – das sind zutiefst moderne Erfindungen, die ohne Industrialisierung, Demokratisierung, Massenmobilisierung nicht denkbar sind. Aber auch nicht ohne die Arbeit jener Architekten, die für den Bau der nötigen Strukturen sorgen.
So lohnt ein Rückblick auf die Ursprünge des Tirol-Tourismus zwischen den ersten Regungen um 1900 und dem Zweiten Weltkrieg, als der Bau von Seilbahnen, Berg- und Sporthotels, aber auch die Errichtung von Straßen, Wasserkraftwerken und Fabriken zu den heroischen Aufgaben moderner Architekten zählten – die auch auf höchstem künstlerischen Niveau gelöst wurden. Die Namen dieser Pioniere der Moderne in Österreichs Westen sind weit über Fachkreise hinaus sehr bekannt: Franz Baumann, Hans Feßler, Hans Fritz, Clemens Holzmeister, Hubert Lanzinger, Siegfried Mazagg, Theodor Prachensky, Wilhelm Nicolaus Prachensky, Lois Welzenbacher und viele andere schufen insbesondere in den 1920er und 1930er Jahren eine unverwechselbare, konsequent an den landschaftlichen und technischen Bedingungen sowie an internationalen künstlerischen Strömungen wie dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit orientierte und höchst innovative Baukultur.
An der Universität Innsbruck dokumentiert das Archiv für Baukunst das Werk dieser optimistischen Architekten, die noch voller Schaffensdrang in einem bemerkenswert fortschrittlichen Umfeld an Bauherren aus dem Bereich der Hotellerie, der Wirtschaft und Politik arbeiten durften. Passenderweise ist dieses Archiv gemeinsam mit dem Tiroler Architekturzentrum aut in einem Monument dieser großen Ära untergebracht – dem Sudhaus der Adambrauerei, das Lois Welzenbacher um 1930 errichtete. Viele Buchmonographien und Einzelstudien sind seit den 1970er Jahren über die Tiroler Moderne erschienen und zeigten auch die medienübergreifende Arbeit von Künstler-Architekten wie Luis Trenker, der als Bergsteiger, Filmemacher und Architekt werkte. Eine profunde wissenschaftliche Gesamtanalyse dieses bemerkenswerten Kapitels der modernen Architektur im internationalen Kontext legte architektur.aktuell-Paris-Korrespondentin Susanne Stacher schließlich 2018 in ihrem Buch „Sublime Visionen“ vor.
Die zwei bekanntesten Architekten der klassischen Tiroler Moderne sind Lois Welzenbacher (1889-1955) und Clemens Holzmeister (1886-1983). Welzenbacher wuchs in Bayern auf, studierte ohne Abschluß an der Münchner Technischen Hochschule, eröffnete 1918 sein Atelier in Innsbruck und arbeitete 1922/23 als Lehrer an der Staatsgewerbeschule Innsbruck, wo auch Clemens Holzmeister tätig war. Diese renommierte Schule brachte zahlreiche bedeutende österreichische Künstler und Architekten hervor, nach 1945 etwa auch Oswald Oberhuber und Walter Pichler. Neben seinen Tiroler Aktivitäten arbeitete Welzenbacher in den 1920er bis 1940er Jahren aber stets auch in Deutschland, etwa 1929 als Stadtbaudirektor der Stadterweiterung Plauen in Sachsen und 1939-1945 als Architekt der Fluzeugwerke Siebel in Halle an der Saale (Sachsen-Anhalt). In der Nachkriegszeit leitete er neben Clemens Holzmeister die zweite Meisterschule an der Wiener Akademie der bildenden Künste – einer seiner bekanntesten Schüler dort war Ottokar Uhl.
Seine überregionale Bedeutung fasst das Innsbrucker Archiv für Baukunst zusammen: „Lois Welzenbacher ist unangefochten der bedeutendste Vertreter der klassischen, weißen Moderne in der Architektur Tirols. Als einziger österreichischer Architekt wurde er 1932 eingeladen, an der Ausstellung The International Style: Architecture since 1922 im Museum of Modern Art in New York teilzunehmen. So setzte Welzenbacher schon zu Lebzeiten den Maßstab an dem sich seine Zeitgenossen und alle nachfolgenden Generationen messen mussten. Einzigartig in der Stadtbaugeschichte Innsbrucks ist die Idee Welzenbachers, der Altstadt eine Neustadt in Form von punktuell errichteten Hochhäusern entgegenzusetzen. Dazwischen sollte sich eine bedeutend niedrigere, gleichwohl in modernen Formen gehaltene Bebauung ausdehnen (wie das heute zerstörte Café Greif an der Triumphpforte). So entwickelte er schon 1924 das nicht ausgeführte Projekt für ein monumentales Hochhaus am Bahnhofsplatz. Zwei Jahre später konnte er mit dem Verwaltungsgebäude des städtischen Elektrizitätswerks und dem Sudhaus des Adambräu die ersten beiden Turmhäuser Innsbrucks verwirklichen.“
Noch wesentlich kosmopolitischer fiel die bemerkenswerte Karriere von Clemens Holzmeister aus, der aus einer aus Brasilien rückgewanderten Tiroler Emigrantenfamilie stammte, an der Technischen Hochschule in Wien studierte und als Assistent arbeitete, danach 1919-24 als Lehrer an der oben genannten Innsbrucker Staatsgewerbeschule und daneben auch in seinem privaten, höchst erfolgreichen Architekturbüro, das zu den Pionieren einer bildreichen Architektursprache für die genuin modernen Bauaufgaben des Tourismus und einer in die Moderne gewendeten Sakralarchitektur wurde. Mit dem Auftrag für das erste Wiener Krematorium 1923 begann seine steile internationale Karriere, die mit Professuren an der Wiener Akademie (1924 bis 1938 und erneut 1945 bis 1957), an der Düsseldorfer Kunstakademie (1928-1932) und an der Technischen Hochschule in Istanbul (1940-1949) sowie mit zahlreichen großen Bauaufgaben in Österreich, Deutschland und der Türkei zu den erfolgreichsten der Moderne überhaupt gehört. Seine umfangreichsten Bauprojekte konnte Holzmeister in der neuen türkischen Hauptstadt Ankara realisieren, wo er im Direktauftrag des Staatsgründers Kemal Pascha Atatürk unter anderem die heute noch genutzten Monumentalbauten für das Parlament, das Verteidigungsministerium und das Innenministerium errichtete. In seiner frühen Tiroler Zeit hatte er ab 1920 – nach den Frühwerken während seiner Wiener Studienzeit vor 1914 und der darauf folgenden kriegsbedingten Unterbrechung seiner Bauaktivitäten – in Innsbruck erste Innenraumgestaltungen realisiert (Bar im Hotel Sonne, Bar Alt-Innsprugg), kleinere Bauten wie die Kaiserschützenkapelle am Tummelplatz am Bergisel (gemeinsam mit Theodor Prachensky, mit Wandbildern von Alfons Walde) sowie bald auch Hotelausbauten in ganz Tirol. Die bekanntesten sind – wie erwähnt – die heute noch genutzten Häuser Hotel Post in St. Anton und Hotel Drei Zinnen in Sexten. Mit seinen Kontakten war auch seinen Künstlerfreunden der Weg in die Tourismusbranche mit ihrer stetig wachsenden Nachfrage nach Bild-, Design- und Planungsleistungen geebnet. Als Künstler publizierte Holzmeister in Wiener Zeitschriften gezeichnete Ansichten der malerischen alten Innstädte, die mit ihren verwinkelten gotischen Bauten und Gassen dem expressionistischen Formempfinden entgegenkamen.
Weniger bekannt als die beiden Superstars der Tiroler Moderne (Holzmeister und Welzenbacher) ist der im jugendlichen Alter von nur 30 Jahren bei einem Autounfall verunglückte Siegfried Mazagg (1902-1932), der 1922 kurz an der Innsbrucker Gewerbeschule bei Holzmeister und Welzenbacher studierte. In den kurzen, aber extrem intensiv gelebten zehn Jahren seines architektonischen Schaffens konnte Mazagg eine bemerkenswerte Vielfalt an Pensionen und Hotels, kollektiven Wohnbauten, Einfamilienhäusern und Einrichtungen, Skihütten, Cafés und Gasthäusern, Geschäftslokalen, Bürobauten, Schulen und Badeanlagen planen und bauen. Seine typische Formensprache mit Pultdächern, konkav geschwundenen Fassaden und kubischen Baukörpern verkörpern eine Quintessenz der Tiroler Moderne. Ein weiterer Grund, an diesen Architekten zu erinnern, ist eine Reportage über den Umbau und die Erweiterung seines frühen, noch gänzlich expressionistischen Hauses Walter in Innsbruck durch Daniel Fügenschuh, die in unserem Sommerheft am 2. Juli 2020 erscheinen wird. Schon am 19. Oktober 2019 hatte das Tiroler Architekturzentrum aut zu einer Besichtigung vor Ort geladen und das Projekt beschrieben:
„Das 1925 vom Tiroler Architekten Siegfried Mazagg geplante Haus Walter befindet sich auf einem spitzwinkeligen Grundstück in Hötting. Mit seinen zwei unterschiedlich weit heruntergezogenen Steildächern und den damit einhergehenden vier verschiedenen, markanten Fassaden ist es ein Zeugnis der zeichenhaften Handschrift des jung verstorbenen Architekten. Bis vor kurzem wurde das unter Denkmalschutz stehende Haus von der Tochter des ursprünglichen Bauherrn bewohnt und in fast komplett originalem Zustand erhalten. Daniel Fügenschuh konnte die kleine Villa erwerben und adaptierte sie mit minimalen Eingriffen als Wohnhaus für sich und seine Familie.“ So gelang eine spannende indirekte „Staffelübergabe“ über nahezu ein Jahrhundert zwischen zwei höchst innovativen Architekten.
Last not least sei auch noch auf ein typisches Multi-Talent der Tiroler Moderne hingewiesen: Der Maler, Designer und Architekt Wilhelm Nicolaus Prachensky (1898-1956) stammte aus einer bekannten Künstlerfamilie und war zeitlebens in ein prägendes Umfeld von Künstlerfreunden gebettet. Der große Architekt Franz Baumann (1892-1974) etwa war sein Schwager. Prachensky fand über Malerei und Graphik-Design zur Architektur. Gerade in den Gründungsjahren der „zweiten“ Tiroler Moderne ab 1919 (die bereits vor dem Ersten Weltkrieg aktive erste Generation repräsentierten Artur Nikodem, Carl Moser, Max von Esterle und Albin Egger-Lienz) manifestierte sich ein spartenübergreifender „Spirit“ in vielen gemeinsamen Aktivitäten bei Wanderungen, Malausflügen und Ausstellungen. Das zeigte sich etwa bei einem Ausstellungsprojekt im Innsbrucker Kunstsalon Unterberger, das Prachensky gemeinsam mit Clemens Holzmeister, Leo Sebastian Humer, Guido Heigl und Ernst Nepo unternahm. Drei dieser Künstler sollten fünf Jahre später mit anderen den Künstlerbund Wage gründen. Prachensky entwarf das Plakat für das Ausstellungsprojekt bei Unterberger, das in stark expressionistischer Manier die fünf Anfangsbuchstaben der gleichgesinnten Künstler in rot und braun als rau ausgezackte, scheinbar von Flammen umzüngelte, himmelwärts strebende Monumente inszenierte. Auch die Schriftzüge der ausgeschriebenen Namen darunter sind in dynamisch-expressiver Typografie gehalten.
Diese stark künstlerische Orientierung der modernen Architekten Tirols ist in der Pionierzeit der 1920er und 1930er Jahre durchaus als regionaltypisches Spezifikum zu bewerten. Sie hatte die Baukünstler dieser Aufbruchszeit in die Lage versetzt, moderne Architektur auf der Höhe ihrer Zeit zu realisieren, die eine intelligente Balance zwischen technischer Innovation, Maßstabsgerechtigkeit im Kontext und einer avantgardistischen Interpretation der starken kulturellen Traditionen des Landes lieferte – Kriterien der Baukultur, die gerade heute eine stärkere Beachtung finden sollten.