Eine interdisziplinäre Diskussionsrunde

Ist Architektur tot?

Eine interdisziplinäre Diskussionsrunde mit architektur.aktuell © architektur.aktuell, Silke Bernhard

In Saudi-Arabien wird eine Linienstadt quer durch die Wüste gebaut, Gründerzeitbauten in Wien werden abgerissen, um billigen Wärmeverbundsystemen Platz zu machen, und große Einkaufszentren in der Peripherie rauben ländlichen Ortskernen ihre Lebensgrundlage. So drängt sich die Frage auf: Ist Architektur tot? In unserer ersten architektur.aktuell Diskussionsrunde widmen wir uns zusammen mit Oliver Gerner, Sophie Luger, Peter Nageler, Maik Novotny, Petra Petersson, Elsa Prochazka, Andreas Rumpfhuber und Adrian Talmon im Showroom von Gerflor diesen und weiteren Fragen.


Baukultur

Wie lässt sich der aktuelle Zustand der Baukultur in Österreich beschreiben?

[Gerner]: Ich glaube, wir müssen aktuell sehr achtgeben auf unsere Baukultur. In den letzten 20–30 Jahren hat sich da im deutschsprachigen Raum viel geändert, vor allem im Vergleich zu skandinavischen Ländern. Die Baukultur ist zu einem fast stiefmütterlichen Thema verkommen. Ich denke, wir waren schon einmal weiter. Das merkt man auch daran, dass heute viel weniger öffentlich über Architektur diskutiert wird, die Baukultur hat nicht mehr so einen großen Platz in der Gesellschaft. Das liegt zum einen an diversen Normen und am aktuellen Zeitgeist, aber vor allem daran, dass Architektur zu einem wirtschaftlichen Thema geworden ist. Besonders der Wohnbau ist in den letzten 10–15 Jahren zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Architektur wurde zu einem Produkt, das von ihrer Dreidimensionalität in Kubikmetern auf eine Zweidimensionalität in Form von Quadratmetern reduziert wurde.

[Prochazka]: Ich denke, der Begriff Baukultur hat ausgedient. Die Architektur befindet sich aktuell in einem Transformationsprozess, der viel weiter gefasst werden muss. Der Infrastruktur muss eine höhere Bedeutung zukommen, die allerdings gesellschaftlich oft nicht als Thematik der Architektur wahrgenommen wird. Der Architekturbegriff kann nicht mehr als Solitär gedacht werden. Ich glaube auch nicht, dass wir uns in der Architektur in einer rein kapitalistischen oder ökonomischen Ausgangssituation befinden. Bauen hat schon immer Geld gekostet. Wir wissen alle, dass man mit low-cost viel bewirken kann. Doch das Bauen für unsere Umwelt ist an sich viel komplexer geworden – das kann schwer auf einen Einzelbegriff wie Baukultur heruntergebrochen werden.

Elsa Prochazka im Gespräch © architektur.aktuell, Silke Bernhard

Elsa Prochazka im Gespräch
© architektur.aktuell, Silke Bernhard

[Rumpfhuber]: Die Architektur spiegelt immer die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Diskurse wider, sie kann nicht autonom in einer Blase herumschweben und hat immer mit der Realität zu tun. Ja, die Architektur ist im Wandel begriffen, das war sie schon immer und auch die Ökonomie war immer schon da, aber diese hat sich seit den 1970er Jahren radikal verändert. Die Basis für den europäischen Wohlstand wurde mit der Idee des Wohlfahrtsstaats entwickelt. Seit der Auflösung des Goldstandards 1973 geht die Einkommensschere jedoch zunehmend auseinander. Die Produktivität wurde enorm gesteigert, ohne dass die Gewinne bei den ArbeiterInnen ankommen. Damit einhergehend ergeben sich andere Formen der Ästhetik.

Die Repräsentation, auf die die Architektur immer wieder sehr stark gesetzt hat, muss anders diskutiert werden, wenn man aktuelle Diskurse, zum Beispiel in der Medientheorie, in Bezug auf Algorithmen und KI ernst nimmt. Damit tun sich die ArchitektInnen schwer und der Diskurs heute schweift meiner Meinung nach sehr schnell in einen Kulturpessimismus ab. Ich würde auch sagen, dass Architektur für ZeitgenossInnen immer schon komplex war, heute jedoch zu beobachten ist, dass der Versuch unternommen wird, Architektur (als Teil der gebauten Umwelt) ausschließlich quantitativ zu beschreiben. Man denke nur an all die XLS-Tabellen, die wir permanent befüllen müssen. Mit einer derartigen beschränkten Beschreibung der Architektur müssen wir lernen umzugehen. Das heißt auch, dass wir uns von den überlieferten und heute oftmals noch hochgehaltenen Idealen der Moderne verabschieden müssen, um sinnvoll in unsere Gesellschaft und Umwelt intervenieren zu können. Baukultur ist in dem Sinne ein fließender Begriff.

Andreas Rumpfhuber im Gespräch © architektur.aktuell, Silke Bernhard

Andreas Rumpfhuber im Gespräch
© architektur.aktuell, Silke Bernhard

[Nageler]: Ich denke, Bauen war schon immer mit Spekulation verbunden und ist heute ein ausgeklügeltes Finanzprodukt. Ein Phänomen, das ich beobachte, ist, dass wir zunehmend Investoren oder Institutionen als anonyme BauherrInnen haben, was auch zu einer Anonymität des Bauens führt. Es braucht den Dialog zwischen AuftraggeberInnen und ArchitektInnen – ein sehr spannender Dialog, wie ich finde, der aber abhandengekommen ist, weil es kaum noch private AuftraggeberInnen gibt. Ich halte es auch für problematisch, dass Architektur eine extrem apolitische Berufsgruppe ist. Es gibt kaum Stellungnahmen zu den Rahmenbedingungen der Politik zum Bauen, die wir aus unserer Berufsgruppe heraus selbst gestalten. Es gibt auch keine Gruppe, die uns im Parlament vertritt, zum Unterschied zu den Niederlanden oder Skandinavien. In Österreich haben wir nicht einmal ein eigenes Ministerium, an das wir uns als ArchitektInnen wenden können.

[Rumpfhuber]: Die Architektur war schon immer wirtschaftsverbunden. In den Niederlanden der 1980er und 1990er Jahre war das das einzige Thema: Es gab riesige Baukonzerne, von denen auch Rem Koolhaas einige Zeit verlängerter Arm war. Dieses politische Interesse eines Bauministeriums ist ein wirtschaftliches Interesse. Die Kultur ist an anderer Stelle angesiedelt, aber auch die Kulturpolitik hat hauptsächlich die Tourismusförderung im Blick.


Abgesehen vom Thema Baukultur haben wir in dieser Runde auch über Bildung sowie Partizipation in der Architekturszene diskutiert. Die gesamte Diskussionsrunde in unserer neuen Ausgabe, ab Seite 14.

Peter Nageler im Gespräch © architektur.aktuell, Silke Bernhard

Peter Nageler im Gespräch
© architektur.aktuell, Silke Bernhard


 

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