Architektur in Zeit und Gesellschaft

Mensch und Bau

2020 03 Media Review Header

Grundfunktion des Bauens ist es, Menschen eine Behausung zu geben, die sie vor widriger Witterung, Zeitgenossen und Wildtieren schützt. Ist das erfüllt, treten gesellschaftsbildende Aspekte in Kraft: Schulen, Theater, Krankenhäuser und mehr. Die hier vorgestellten Publikationen spannen einen weiten Bogen von vernakulärem Bauen über den Strukturalismus, das Rote Wien bis zur Zukunft des Wohnens und einem neuen Buch zu Margarete Schütte-Lihotzky.


 

 

Vernakuläre Bauten, die ohne Architekten von ihren Bewohnern fachkundig aus Materialien wie Holz, Bambus, Lehm, Stein, Palmwedeln und Gräsern errichtet wurden, sind mehr als „nur“ Behausungen. Sie sind Merkmal einer Gesellschaft, die mit ihrem Land verwurzelt und ihren Häusern tief verbunden ist. Das erfordert profundes Wissen zu Material und Bauweise. So verwenden die Zulu im südlichen Afrika unter genauester Kenntnis spezifischer Materialeigenschaften bis zu zehn Grasarten, um ihre Rundhütten zu decken. Oft haben Bauteile auch symbolische Bedeutung. Bei den indigenen Völkern im brasilianischen Xingu-Gebiet verkörpert der zentrale Pfosten den Mittelpunkt des Universums. Traditionelle Bauweisen – Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten von Christian Schittich ist eine Weltreise zu vernakulären Bauten, die durch Texte verschiedener AutorInnen, Fotos, Pläne und Schnitte wunderbar dokumentiert sind. Ein faszinierend reichhaltiges Buch.

 

Christian Schittich
Traditionelle Bauweisen
384 Seiten, Text deutsch, Birkhäuser, € 79,95

Traditionelle Bauweisen

 

 

Der Reclam Verlag hat auch Architektur im Programm. Klaus Englert fragt sich, Wie wir wohnen werden. Er setzt bei der Moderne und ihrem Traum vom offenen, neuen Wohnen an, in dessen leeren Räumen die Seele aufatmen kann. Bauhaus-Direktor Hannes Mayer, Ernst May, Le Corbusier, Frei Otto und viele andere propagierten die seriell hergestellte, daher leistbare Wohnung mit mobilem Grundriss. Mit der Nazi-Ideologie kehrte das Häuschen mit Satteldach zurück, nach dem zweiten Weltkrieg setzten sich CIAM-Kriterien durch. Meist monofunktionale Satellitenstädte in Randlage folgten. Heute ist das Wohnen in der Altstadt wieder beliebt und Immobilien wurden als Wertanlage entdeckt. Das verknappt die Zahl günstiger Wohnungen eklatant. Die Reaktion darauf sind gemeinschaftliche, auch genossenschaftlichen Wohnformen oder klug geplante, voll ausgestattete „Microappartements“ zu exorbitanten Preisen. Der Klimawandel erhebt Nachhaltigkeit zum Trend. Drei Interviews mit Werner Sobek, Tobias Wallisser und Winy Maas runden diesen Überblick zum Wohnen ab.

 

Klaus Englert
Wie wir wohnen werden
216 Seiten, Text deutsch, Reclam, € 18,–

Wie Wir Wohnen Wollen Reclam

 

Das Rote Wien, der von Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler und Elke Wikidal herausgegebene Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Wien Museum hat das Zeug zum Standardwerk. Eines der „außergewöhnlichsten, kreativsten und mutigsten kommunalen Experimente der neueren europäischen Geschichte“, wie Wolfgang Maderthaner, Historiker und Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs befindet, wird auf 470 Seiten facettenreich aus verschiedenen Perspektiven abgehandelt. Fotos, Dokumente, Quellenangaben und ein Glossar komplettieren das Buch, das nicht nur Essays, sondern auch Debatten bietet. So moderiert Monika Platzer eine Diskussion zwischen Eve Blau und Gabu Heindl zur Frage, was Architektur und Politik vom Roten Wien lernen können. „Das Potential des Roten Wien liegt darin, auf Basis eines egalitären Gerechtigkeitsprinzips dort Hoffnung zu wecken, wo der Markt sagt, dass es keine Alternative gibt.“ Es ist ein großes Verdienst des Buches, die Vergangenheit des Roten Wien mit Forderungen an die Zukunft zu verknüpfen.

 

W. M. Schwarz, G. Spitaler, E. Wikidal (Hrg.)
Das Rote Wien – 1919 bis 1934
472 Seiten, Text deutsch, Birkhäuser, € 39,–

Das Rote Wien Buch

 

 

Die „New Brutalists“ in London wollten eine Architektur schaffen, die weder formal noch informell ist, weder ästhetisch noch anti-ästhetisch und sich nicht auf Funktionen beschränkt: Sie sollte künftige Veränderung mit bedenken und wie Kunst auch Emotionen wecken. Schlüsselfiguren dieser Strömung waren Alison und Peter Smithson, deren Londoner Robin Hood Gardens mit ihrem inklusiven Ansatz leider abgerissen wurden. Der Strukturalismus wollte ein hierarchiefreies, demokratisches Bewusstsein in Architektur umwandeln. Er manifestierte sich vor allem in den Niederlanden, wesentliche Protagonisten sind Aldo van Eyck und Hermann Hertzberger. Im Buch Die vergessenen Alternativen spürt Bernhard Denkinger beiden Strömungen und ihrem Zukunftspotential nach.

 

Bernhard Denkinger
Die vergessenen Alternativen
288 Seiten, Text deutsch, jovis, € 32,–

Vergessene Alternativen Buch

Margarete Schütte-Lihotzky, eine der ersten Architektinnen Österreichs, war in vieler Hinsicht eine Pionierin. Sie engagierte sich in der Siedlerbewegung, entwickelte die „Frankfurter Küche“, riskierte im Widerstand gegen das NS-Regime ihr Leben. Ihr reiches architektonisches Schaffen – wie zwei wegweisende Kindergärten in Wien – wurde bis dato von ihrer faszinierenden Persönlichkeit überschattet. Das Buch Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht wirft neue Perspektiven auf Leben und Werk. Basis dafür ist eine Tagung, die im Oktober 1918 an der Wiener Universität für angewandte Kunst stattfand. Die Herausgeber Marcel Bois und Bernadette Reinhold publizierten alle Beiträge des Symposiums, das sich interdisziplinär mit Schütte-Lihotzky befasste. So stellt Sabine Placolm die „erste Architektin“ in den Kontext anderer Frauen die damals Architektur studierten. Thomas Flierl wagt sich auf das bisher unbekannte Terrain ihrer Zeit in der Sowjetunion (1930-1927) und Burcu Dogramaci stellt den ortsspezifisch modifizierbaren Dorfschul-Typenbau vor, den sie für die Türkei entwickelt hatte. Helen Yound Chang zeigt wie ihre Reisen nach China 1934 und 1956 die Architektin inspirierten. Monika Platzer untersucht ihre magere Auftragslage im Kontext des Kalten Krieges, Elisabeth Boeckl Klamper ihre Rolle im Widerstand. Karin Zogmayer trägt einen Essay bei. Und das ist nur ein Bruchteil. Für Schütte-Lihotzky-Fans ein Muss.

Schütte Lihotzky Buch

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