Change Blog # 9

Reale Utopien

ZVA Cover, architektur.aktuell 12/2020

Im Change Blog von Oktober haben wir die gesellschaftliche Relevanz des Wohnbaus diskutiert. Und dargestellt, dass dieser Supertanker nur langsam seinen Kurs ändern kann. Nun präsentiert die renommierte Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs (ZVA) Ideen, die den positiven Wandel beschleunigen könnten.


 

„Reale Utopien“ betitelt die ZVA eine Publikation mit vielen innovativen Ideen, die im Dezember 2020 als Sonderheft bei „architektur.aktuell“ erschien. Redigiert wurde dieses spannende Panorama möglicher und wünschenswerter anderer Bau-Realitäten von Franziska Leeb. Präsentiert werden darin Essays, Bauherren-Interviews, ArchitektInnen-Statements, Arbeiten junger Studierender und das frische Denken eines 90-jährigen Veteranen der Nachkriegsarchitektur. Welche konkreten Strategien des positiven Wandels, die eine wachsende Kluft zwischen „Realität“ und „Utopie“ überbrücken könnten, schlägt die ZVA hier vor? Den Anfang macht Sabine Pollak, Architektin in Wien und Professorin an der Linzer Kunstuni. Gleich zu Beginn ihres Essays „Monumentale Utopien. Notwendigkeit und Risiko des Möglichen“ spricht sie drei wesentliche Innovationsbereiche im (geförderten) Wohnbau an, die im Bau-Alltag stets als „utopisch“ bezeichnet werden. Obwohl diese geringfügigen Abweichungen von dominierenden Standards (die in Wahrheit oft nur unreflektierte Gewohnheiten sind) jederzeit ohne weiteres implementierbar wären und damit die Nutzungsqualität deutlich verbessern würden:

Aus dem ZVA-Sonderheft Reale Utopien, Dez 2020, Foto Kurt Hoerbst, Text Andrea Jany

Aus dem ZVA-Sonderheft Reale Utopien, Dez 2020, Foto Kurt Hoerbst, Text Andrea Jany

Pollak nennt unterschiedliche Geschosshöhen, Plattenfassaden und Loftwohnungstypen als Wohnbau-Innovationen, die spürbaren Fortschritt bringen würden und besser mit zeitgenössischen Lebensweisen kompatibel wären als aktuelle Mainstream-Typen. Darüber hinaus präsentiert Pollak einen lehrreichen Überblick über historische und aktuelle Architekturutopien, von Le Corbusier über die männerdominierten Wiener Avantgarde-Experimente der 1960er Jahre und das Buch „Utopia Forever“ von R. Klanten und L. Feireiss (2011) bis hin zu Christian Kerez‘ „Incidental Space“ auf der Architekturbiennale 2016.

Spannend, anregend, repräsentativ für das aktuelle Diskursniveau der Architekturdebatte in Österreich!

Ein aussagekräftiges aktuelles Stimmungsbild der ArchitektInnen Österreichs vermitteln sieben ArchitektInnen-Statements aus ebenso vielen Bundesländern. Sie bauen ebenfalls Brücken zwischen „Utopie“ und „Realität“. Denn alle sieben antworteten auf die gleichen drei Fragen: „Was muss gelungene und verantwortungsvolle Architektur leisten?“, „Was werden in Zukunft die drei wichtigsten Handlungsfelder innovativer Architektur sein?“ und „Welche baukulturellen Themen wären in Ihrem Bundesland von Architektenschaft und Politik am vordringlichsten in Angriff zu nehmen?“. Die Antworten von Solveig Furu Almo, Udo Heinrich, Elias Molitschnig, Barbara Poperschnigg, Birgit Schieretz, Lina Streeruwitz und den Tp3 Architekten thematisieren zahlreiche Handlungsfelder, bei denen durch einfache Maßnahmen gleich hier und jetzt Fortschritt möglich wäre. Etwa bei der Grundsatzfrage jedes Projekts, ob es dafür überhaupt einen Neubau braucht (S.F. Almo), in einer neuen Fokussierung auf die Raumplanung (E. Molitschnigg) und einer Renaissance des Handwerks (B. Poperschnigg).

Interview mit Bgm. Benedikt Erhard im Sonderheft der ZVA, 12/2020, Visualisierung: Janusch

Interview mit Bgm. Benedikt Erhard im Sonderheft der ZVA, 12/2020, Visualisierung: Janusch

Die beiden Bauherren-Interviews mit höchst konträren Hintergründen zeigen anschaulich, an welchen Schrauben „realpolitisch“ gedreht werden muss, um den positiven (bau)kulturellen Wandel zu beschleunigen. Ein engagierter Bürgermeister einer Speckgürtel-Gemeinde etwa hat viel Macht und kann großartige Innovationen auf lokaler Ebene mit überregionalen Auswirkungen durchsetzen – das zeigt Benedikt Erhard aus Lans bei Innsbruck mit seinem gemeindeeigenen Projekt einer innovativen Volksschule mit Kindergarten und einem Wettbewerb für mäßig verdichteten Wohnbau mit höchsten Qualitätsansprüchen. Auch Gerhard Schuster von der Seestadt Aspern in Wien verfolgt eine sukzessive Implementierung neuester Erkenntnisse nachhaltiger Stadtentwicklung in jedem neuen Quartier, das hier in einem großstädtischen Maßstab gebaut wird.

Neues Gemeinschaftsbewußtsein und neue ethische Perspektiven thematisieren die Beiträge über den Wohnbau der Zukunft (Andrea Jany) und ein Architektursymposion in Triest, das Peter Lorenz initiierte (Ch. Kühn, H. Trapp). Bei ersterem ist viel von den immer beliebteren Baugruppen die Rede, und auch bei letzterem wird die stetig wachsende Bedeutung der sozialen Infrastruktur im Sinne einer angestrebten neuen (Bau-)Ethik betont. Den Abschluss des ambitionierten Querschnitts der ZVA durch aktuelles innovatives Architekturdenken machen Berichte über Gunther Wawriks Buch „Die Bergstadt. Eine Fiktion“ und über ein Entwurfsprogramm der Wiener Akademie der bildenden Künste zu städtebaulichen Maßnahmen gegen die Überhitzung der Großstädte. Hier treffen zwei konträre Stadttypen aufeinander: Während der 90-jährige Wawrik die vielfältigen (natur-)räumlichen Möglichkeiten einer Stadt untersucht, die auf einem Hügel liegt und weite Ebenen überblickt, schlagen die Studierenden von Hannes Stiefel und Luciano Parodi grüne Megastrukturen vor, die der Stadt Wien große Atmungsorgane verschaffen würden. Spannend, anregend, repräsentativ für das aktuelle Diskursniveau der Architekturdebatte in Österreich!

Bericht über das Re:Forum Triest 2020 im ZVA-Sonderheft, 12/2020

Bericht über das Re:Forum Triest 2020 im ZVA-Sonderheft, 12/2020

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