MEDIA REVIEW

Sozial und gemeinschaftlich

Media Review 10/2020 Header

Das knappe Gut Wohnraum, der Wunsch einer diversen Gesellschaft nach Wohnmodellen jenseits des gängigen Angebots und die Veränderung der Welt in vielerlei Hinsicht machen neue Herangehensweisen und Konstellationen im Wohn- und Städtebau notwendig. Ein Film und vier Bücher geben Einblick in unterschiedliche Ansätze für einen von sozialen Kriterien und Partizipation geleiteten Wohnbau und eine ebensolche Quartiersentwicklung.


 

 

Neue Formen des Zusammenlebens, Baugruppen, Wohngemeinschaften, Cohousing-Siedlungen erleben derzeit einen Boom und der Genossenschaftsgedanke ist so aktuell wie kaum zuvor. Das gemeinschaftliche Bauen und Wohnen hat eine lange Tradition, die – auch wenn es der Titel nicht gleich suggeriert – in Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft kompakt und instruktiv zusammengefasst ist. Von der frühsozialistischen Vision genossenschaftlichen Zusammenlebens des Phalansteriums von Charles Fourier über frühe Realisierungen solcher Konzepte wie das Familistère in Guise von Jean-Baptiste André Godin, Lily Brauns Einküchenhaus und die Wiener Siedlerbewegung der Zwischenkriegszeit bis hin zur Besetzung des Zürcher Wohlgroth-Areals reicht der gleichsam im Zeitraffer dargestellte historische Rückblick. Großzügige Bildstrecken, Essays, Erfahrungsberichte und steckbriefartige Portraits aktueller Gemeinschaftsprojekte geben einen Überblick über kollektive Wohnformen unserer Zeit. Verändern kann die Welt (des Wohnens) nur, wer eine Vorstellung davon hat. In schicker Aufmachung liefert der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Vitra Design Museums (2017) auf verschiedenen Ebenen der Vertiefung fundiertes Wissen und Inspiration.

 

Mateo Kries, Mathias Müller, Daniel Niggli, Andreas Ruby, Ilka Ruby (Hrg.)
Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft
352 Seiten, Deutsch, Ruby Press, € 49,90

 

Together Buch

 

Lebensqualität hängt nicht nur von einer guten Hausgemeinschaft ab. Am Helmut-Zilk-Park beim Wiener Hauptbahnhof ging es darum, einen möglichst kleinteiligen Stadtteil mit Fokus auf den öffentlichen Raum und belebte Erdgeschosszonen für ein gemischtes, urbanes Publikum zu entwickeln. Dazu wurden neue Werkzeuge und Verfahren der Stadtproduktion erstmals in Wien angewendet. Der Stadtforscher und Mitbegründer der Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen Robert Temel, der auf dem Areal die Konzeptverfahren für Baugruppen und Quartiershäuser begleitete, dokumentiert in Ein Stück Stadt bauen – Leben am Helmut-Zilk-Park Wien-Favoriten die Entwicklungsgeschichte zum Zeitpunkt zwischen Planungs- und Umsetzungsphase. Er lässt AkteurInnen den Entwicklungsprozess Revue passieren, Manöverkritik üben und Hoffnungen formulieren. Schön wäre es, wenn dem mittlerweile vergriffenen, auf der Website der Wiener Stadtentwicklung allerdings digital verfügbaren Buch ein Band nachfolgen würde, der nach einer gewissen Zeit des Einlebens auswertet, wieweit sich die Erwartungen erfüllt haben.

 

Robert Temel
Ein Stück Stadt bauen
116 Seiten, Deutsch, Stadt Wien (gratis Download)

Ein Stück Stadt bauen Buch

 

 

 

Einem Vorzeigeprojekt auf dem Areal widmet sich der Film Bahnbrechend Anders Wohnen -Gleis 21. Regisseurin Andrea Eder begleitete dafür vom Spatenstich bis zum Einzug ProtagonistInnen der Baugruppe, die ihre mit der Beteiligung an diesem solidarischen Wohnexperiment einhergehenden Motivationen, Hoffnungen und Sorgen darlegen. Die Dokumentation gibt Einblick in die von soziokratischen Prinzipien geleitete Prozessentwicklung und berichtet vom damit einhergehenden Arbeitspensum ebenso wie von vielen Glücksmomenten. Eine absolute Empfehlung für SkeptikerInnen wie InteressentInnen, die lebensnah und aufschlussreich mehr darüber erfahren möchten, wie eine Baugruppe funktioniert.

 

Andrea Eder (Regie)
Bahnbrechend anders wohnen – Gleis 21
71 min, Deutsch, RAUM.FILM, Filmvorführung am 16.10.2020, 16:30 Uhr im Kulturraum Gleis 21, Wien

Gleis 21 Filmposter

 

 

Gemeinschaft bauen gelingt auch ohne Baugruppe, Bauträger oder Genossenschaft, lernen wir aus dem Buch über das Wohnen und Arbeiten auf dem Hagmann-Areal in Winterthur. Auf einem privaten Grundstück schuf eine Familie ein Haus mit 50 Wohnungen, Jokerzimmern, Gemeinschafts- und Begegnungsräumen, Werkstatt und Gewerbeflächen. Nicht um die rasche Rendite ging es, sondern um die sinnstiftende Weiterentwicklung eines Erbes. Orientiert an den Zielsetzungen der 2000-Watt-Gesellschaft, mit – von den Architekten Weberbrunner und Soppelsa umgesetztem – architektonischem Anspruch, leistbaren Mieten und einer Belegungsvorschrift, die einer längerfristigen Unter- oder Überbelegung vorbeugt, entstand ein Vorzeigeprojekt jenseits üblicher Mechanismen des Wohnungsmarktes. Das haptisch wie visuell attraktive Buch erzählt die Geschichte der Zimmererfamilie Hagmann, die Genese des Projekts, liefert Zahlen und Fakten und porträtiert die Hausgemeinschaft. Als feines Extra ist ein Faltblatt mit Plänen beigelegt. Eine Handlungsanweisung für NachahmerInnen gibt nach dem Motto „es ist nicht notwendig, alles neu zu erfinden“ die Checkliste von Sabine Wolf.

 

Familie Hagmann (Hg.)
Gemeinschaft bauen
240 Seiten, Deutsch, Park Books, € 34,–

Gemeinsam bauen Buch

 

 

Der sozialen Wohnungspolitik und den Herausforderungen bei der Quartiersentwicklung im größeren Maßstab einer Metropolregion widmet sich der im April erschienene Band Neues soziales Wien, der anlässlich der Zwischenpräsentation der IBA_Wien 2022 Expertinnen und Experten aus Forschung, Planung, Politik und Praxis zu Wort kommen lässt. Es stellt weniger konkrete Projekte dar, sondern unterzieht das Feld des Wohnbaus – von der Wohn- und Bodenpolitik über neue Wege der Quartiers- und Bestandsentwicklung bis hin zur Vorstellung neuer Wohnbaumodelle und Visionen – einer kritischen Betrachtung. Erfreulich, dass das umfangreiche Kompendium nicht nur im eigenen Wiener Saft kocht, sondern auch die internationale Perspektive nicht zu kurz kommt. Mit einer Fülle an Beiträgen bietet das Buch weit über die Architektur hinausgehend tiefgehende Erkenntnisse. In zwei Jahren wird sich zeigen, wie weit aus der Theorie gute Wiener Praxis geworden ist.

 

IBA_Wien 2022 / future.lab (Hg.)
Neues soziales Wohnen
256 Seiten, Deutsch, jovis, € 35,–

Neues Soziales Wohnen Buch

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