Von den Wikingern lernen – Rückblicke und Einblicke skandinavischer Architektur
Vor etwa 120 Jahren schufen drei ambitionierte junge Architekten in der Nähe von Helsinki ihr neues Lebens- und Arbeitsdomizil, die Residenz Hvitträsk, benannt nach dem dortigen See Vitträsk – dem weißen See. Es waren die berühmten Architekten Herman Gesellius, Aras Lindgren und Eliel Saarinen, die bei diesem Projekt ganz der avantgardistischen jungen Nationalromantik folgten, das den hohen Anspruch hatte, nicht nur ein gemeinsames Wohnhaus, Atelier und Gesamtkunstwerk zu werden, sondern auch eine ganz neue Gestaltungsidee verkörpern sollte.
Für die ungewöhnliche Ästhetik griffen sie vernakuläre Vorbilder wie das karelische Bauernhaus auf, integrierten stellenweise Elemente der schweizerischen und norwegischen Holzbauweise sowie subtile Akzente eines archaischen Wikinger-Mythos. Der nationalromantische Stil verbreitete sich mit großer Popularität rasch in Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Estland und Lettland sowie in Russland.
Im Gegensatz zu den Jugendstilarchitekten, die in den kontinentaleuropäischen Ländern auf eine lange, reiche Architekturgeschichte zurückblicken konnten, empfanden die nordischen Architekten diesbezüglich ein gewisses Vakuum, das es zu füllen galt. Während sie einerseits eine neue, eigenständige Positionierung untereinander suchten, nachdem die nachbarlichen Konflikte zwischen Norwegen, Schweden, Finnland und Russland viele Jahrzehnte zu wechselnden Allianzen geführt hatten, war es offensichtlich, dass die nordischen Länder eine gewisse Außenseiterstellung aufwiesen. So schrieb schon Herder über die Finnen: „Nirgend indes hat dieser Volksstamm zur Reife einer selbständigen Kultur kommen können, woran wohl nicht seine Fähigkeit, sondern seine üble Lage schuld ist. Sie waren keine Krieger wie die Deutschen; denn auch noch jetzt, nach so langen Jahrhunderten der Unterdrückung, zeigen alle Volkssagen und Lieder der Finnen, daß sie ein sanftes Volk sind.“ Die geografische Lage und der Mangel an reichen Städten, die es weder an der Küste noch im Hinterland gab, waren im Norden schuld daran, dass es kein vergleichbares bauliches kulturelles Erbe wie in Zentraleuropa gab.
In dieser Phase der nationalromantischen Periode erfolgte ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die eigene Geschichte, als dass man in den skandinavischen Ländern die Wikinger nun mehr als Vertreter der nordischen Heldenkraft neu entdeckte und ihre Kriegszüge nun als positiv konnotierte Exkursionen und Abenteuerreisen darstellte. Die bis dato eher vielgeschmähte barbarische Wikingerzeit wurde als „goldenes Zeitalter“ umgedeutet, dessen Erbe man voll Begeisterung annahm...