Interview: the next ENTERprise über den öffentlichen Raum
In zahlreichen Projekten hat das Wiener Architektenduo Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs bekannte Funktionen und unbekannte Möglichkeiten des Öffentlichen untersucht.
Wie geht es dem öffentlichen Raum heute?
MTH: Durch die Coronasituation bemerkte man bei der gelegentlichen Öffnung von Museen oder auch bei Spielplätzen und Parks deutlich, wie wichtig diese Räume für die Gesellschaft sind. Es sind Orte des Treffens und des Flanierens, der Erholung aber auch der Inspiration, des Protestes, … – es geht keineswegs nur um Bewegung von A nach B. Ob in der Natur, in der Stadt oder auch in Museen, wo viele Menschen die Möglichkeit nutzen, einfach in einem anregenden Kunstambiente spazieren zu gehen. Die Gesellschaft bedarf dieser Ventile. Man ist in Büro, Wohnung und Schule „untergebracht“ – wir brauchen aber zusätzlich die öffentlichen Räume. Sie sind der „Sauerstoff“ für unsere Gemeinschaft.
Ist damit auch ein partieller Funktionswandel der Kultureinrichtungen entstanden? Vom gezielten Besichtigen zum Flanieren? „Atmosphäre“ ist offenbar wichtiger als wir dachten.
MTH: Museen sind Räume mit Schwelle, da man Eintritt zahlen muss. Aber sobald es freien Eintritt gibt, werden sie zum offenen Raum – da kann man bei Schlechtwetter einfach hineinspazieren, auch mit Kindern. So werden Museen erst wirklich „öffentlich“: indem die Bezahlschranke wegfällt, können sie als spontaner Freizeitort wahrgenommen werden. Das haben wir in Wien etwa im MAK so erlebt oder auch im Wien Museum, vor dessen baubedingter Schließung. Diese Situation erzeugte ein Umfeld und weckte Interesse sich bei Schlechtwetter z.B. im Museum zu treffen. Das Öffentlich machen von Kulturräumen, vor allem für Familien mit Kindern und Jugendliche, die damit selbstverständlich in ein solches Ambiente hineinwachsen, finde ich sehr wichtig.
Wie sieht es im Edutainment-Bereich aus? Wie werden etwa die „Salzwelten“ am Dürrnberg in Salzburg funktionieren, die ihr gerade plant? Gibt es dort Stadtplatz-ähnliche Situationen?
EJF: Hier gibt es mehrere Aspekte. Wenn man in den Berg in das „Erlebnisbergwerk“ hineinfahren oder auch nur eine Kurztour buchen möchte, zahlt man Eintritt. Unser Anliegen war jedoch darüber hinaus Aufenthaltsqualitäten zu schaffen, die unabhängig von der Bezahlschranke funktionieren. Wir haben einen überdachten Außenbereich konzipiert, die sogenannte Plaza, die eine neue Zirkulation zwischen Besucherzentrum, Foyer, Wartebereich, Bistro, Shopbereich und Kino ermöglicht. All das kann man dadurch unterschiedlich programmieren. Erst anschließend kommt man in den Ankleidebereich für die Schutzkleidung und eine Etage tiefer zur Einfahrt in den Bergwerksstollen. Der Betreiber möchte die Option haben, dass man eine Obertag-Tour buchen kann, mit dem Keltendorf, genannt „Kelten.Erlebnis.Berg“, und seinen archäologischen Schaugrabungen. Dies steht als Außenstelle mit dem Keltenmuseum in Hallein in Verbindung und wird auch als mögliches Umsatzmodell angedacht. Wir haben jedenfalls einen Spielbereich für 0-6 Jahre geschaffen und einen weiteren Bereich für Jugendliche, da das Schaubergwerk vielfach von Schulgruppen besucht wird. Der Spielplatz sollte frei zugänglich sein. Am Ankunft-Parkplatz gibt es ein pavillonartigen Infoterminal mit Übersichtsplänen über das gesamte Gelände. Von dort aus kann man in das Besucherzentrum gehen, wo es auch eine Ausstellung geben soll, mit Vitrinen des Keltenmuseums, in denen faszinierende Bergbau-Werkzeuge aus der Keltenzeit gezeigt werden. Dann gibt es eine Epochenwand, die die zeitliche Geschichte der Salzgewinnung illustriert.
Danach kann man ein Ticket oder einfach nur ein Getränk kaufen. Es steht den BesucherInnen frei nur den Shop und das Bistro zu besuchen, auf der glasüberdachten Plaza sich hinzusetzen und dann wieder wegzugehen. Wir finden solche Bereiche sehr wichtig. Diese niederschwelligen Freibereiche im Konzept unterzubringen sind eine Herausforderung, da ein Bauherr natürlich auch Geldumsätze generieren möchte. Wir haben daran gearbeitet, den Blick und das Informationserlebnis für die Besucher breit zu streuen und nicht nur auf das monofunktionale Ticketkaufen zu fokussieren. Unser Input war ein Bewusstsein zu schaffen, dass es bei einer Themenwelt nicht nur um Unterhaltung geht, sondern auch um ein öffentliches Interesse, um einen Kulturauftrag. Beispielsweise müssen die Stollen im Berg, 2500 Jahre Salzabbau, erhalten und gewartet werden. Für die Vermittlung von Kulturbewusstsein reicht es nicht, nur Touren durch den Berg anzubieten, da soll eine Bewusstseinsstreuung über die geschichtliche Entwicklung mitgedacht werden.
Wie sieht es in urbanen Räumen aus? Derzeit werden Stadtplätze ja tendenziell überladen – es muss das Schwammstadtprinzip implementiert werden, es muss Sitzgelegenheiten und Spielplätze geben, Konsumations- und Entertainmenteinrichtungen etc. – Da bleibt bald kein ungestalteter Fleck mehr übrig.
EJF: Der öffentliche Raum ist eine sehr komplexe Materie. Das Thema ist sehr davon abhängig, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Etwa aus jener von Jugendlichen, oder aus jener von älteren Bürgern – das hat jeweils unterschiedliche Folgen. Bei uns ist das Thema „Brache“ ein sehr wichtiges – der nicht gestaltete, der sich selbst gestaltende oder aus seinem Zustand herauswachsende öffentliche Raum. Das sind wichtige Freihalteflächen, von denen vorerst unklar ist, wofür sie gut sind. Sie sind aber ganz sicher für vieles nützlich. Diese Stadträume werden leider zusehends durch dem Immobilienmarkt verdrängt und von privaten Investoren verbaut bzw. versiegelt.
Berlin hatte nach der Wende viele Brachen mit vielen informellen Funktionen. Nun werden diese Räume zunehmend reguliert, geordnet und mit konkreten Funktionen versehen. Können wir mehr ungestaltete Räume in den Städten haben?
EJF: Man würde sich mehr ungestaltete Räume wünschen. Denn sobald die Gestaltung beginnt, entsteht ein Sicherheitsthema und damit die Zutrittskontrolle – etwa Tag- und Nachtsituationen. Da gibt es viel Phantasie, was alles „passieren“ kann in der Benutzung. Diese Phantasie entsteht interessanterweise bevorzugt beim öffentlichen Raum.
MTH: Zum Thema Brache finde ich die Masterplanung von Vlay-Streeruwitz am Wiener Nordwestbahnhof spannend, die in der Mitte der Bebauung die bestehende Branche belassen hatte und die Infrastruktur, Erschließungen rundum organisierten – also ein „Central-Park-Konzept“. Sie verwendeten hier auch den Begriff „Brache“ und lassen das Noch-nicht-Fertige bewusst zu. Das hat viel mit der gewerblichen Geschichte des Orts zu tun und mit den Fundstücken, die auf diesem Areal auftauchten. Man will die geschichtliche Entwicklung des Orts miteinbeziehen. Das ist ein spannendes Konzept der inhaltlichen Verdichtung und entspricht unserer Überzeugung von offenen Möglichkeitsfeldern, die eine Vielfalt von unvorhersehbaren Nutzungen des öffentlichen Raumes zulässt. Das Überfunktionalisieren bringt eine Art Check-List, auf der man Abhaken kann was erledigt ist: also etwa einen Platz für die über 60-Jährigen, ein Spielplatz 0-6 etc. Aber die realen Bedürfnisse, die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum, die kann man nicht vorab im Detail definieren. Und z.B. durch Corona sind wieder andere Bedürfnisse entstanden, Kommunikation ist vermehrt in den öffentlichen Raum gewandert und wird dort kompensiert. Ich denke oft an den Campo in Siena – ein Leerfeld mit spezifischer Topografie. Jeder Nutzer wird sofort gesehen, hier kann sehr viel stattfinden – es gibt die Pferderennen, flanierende Touristen, Picknicks und vieles andere mehr. Das ist eine Fläche, bei der die Ränder sehr wichtig sind. Bei einem Leerfeld geht es um die Bereiche, wo der Platz in die Bebauung übergeht. Die Übergänge, die verräumlichte Qualität der Grenzen zwischen dem freien Feld und dem wieder Bebauten ist entscheidend.
Diese Zone muss man spezifisch gestalten und das interessiert uns am öffentlichen Raum. Wir haben das Thema des „entgrenzten Raumes“ auch in unserem Projekt Seebad Kaltern in Südtirol behandelt. Das ist ein öffentliches Freibad wo man Eintritt zahlt, aber mit dem Konzept der Platzerweiterung und dem Sonnendeck als öffentlicher Platz – Schwimmbad und Promenade treffen sich am selben Ort. Die Trennlinie ist der Kiosk mit Bartresen, der von beiden Seiten zugänglich ist und man sich an der Bar zusammenfinden kann – egal ob ich Eintritt fürs Schwimmen gezahlt habe oder einfach nur spazieren gehe. Der Besucher soll das räumliche Gefühl haben, dass ihm der gesamte Platz gehört, und dieselbe atmosphärische Qualität mit Blick auf den Kalterer See genießt, obwohl dieser in Badende und in Passanten geteilt ist. Sonst gibt es in Kaltern nicht viele Orte, wo der See öffentlich zugänglich ist. Es gibt den Schilfgürtel und private Hotels. Die Zone bis zum Ufer ist meist nicht öffentlich begehbar. Auch unsere Promenade liegt nicht direkt am See, aber durch die erhöhte Lage des Sonnendeck’s haben wir den See näher gebracht. Die Freizeitanlage ist zweigeschossig, die Pavillons sind sehr durchlässig. Dadurch ist die Wahrnehmung des naturgeschützten Sees für alle gegeben. Das ist auch ein öffentlicher Mehrwert.
EJF: Unser Hauptanliegen war die Tag-Nacht-Funktion. Am Tag schwimmen, am Abend Kulturveranstaltungen oder ein Jugendtreff. Diese Wandelbarkeit ist ein sehr wichtiges Thema, und darum geht es bei öffentlichen Räumen. In unseren Pandemiezeiten sind etwa im Wiener Prater plötzlich viele improvisierte Stände mit Ausschank entstanden. Alle Gastronomien sind zugesperrt und auf einmal wandern sie in den Freiraum, wo sie eben dort bewirten. Solche Verschiebungen sind spannend und unterstreichen die Notwendigkeit der nicht determinierten öffentlichen Räume.
Aus solchen Funktionsverschiebungen könnte man lernen, dass sie überall möglich gemacht werden sollten. In der dichten historischen Wiener Innenstadt gibt es allerdings keinen Platz wie den Campo von Siena. Die laufende Verkehrsberuhigung in der Wiener Innenstadt könnte einiges bewegen, es begann mit der Herrengasse und ging in der Rotenturmstraße weiter. Multifunktionale Begegnungsbereiche werden sich möglicherweise ausdehnen.
MTH: Auch die Verkehrsberuhigung samt Fußgängerzone in der Wiener Mariahilferstraße haben gezeigt, dass diese Idee funktioniert.
EJF: Am sogenannten Mariahilfer Platzl beim Gürtel, wo es Ende der 1990er Jahre das Projekt „Turm und Riegel“ von Coop Himmelb(l)au gab, das leider nicht realisiert wurde, ist nach wie vor nur eine Verkehrsflächen mit U-Bahnabgang und sonst nichts. Ein paar Bankerln und Bäumchen sind zu wenig um diesen Ort als öffentlichen Platz zu aktivieren. Die bebauten Ränder geben nichts her, das funktioniert irgendwie nicht. Man muss stets fragen: Wie attraktiv und durchlässig sind die Ränder, wie einladend sind sie gestaltet?
MTH: Ein wesentliches Thema des öffentlichen Raums ist natürlich die Mobilität. Wenn die Autos reduziert werden, dann verändert sich sehr viel im öffentlichen Raum. Darin liegt am meisten Potential, da könnte sehr viel Fläche frei werden, die derzeit nur von Autos besetzt ist. Auch das Umweltthema ist wegen der steigenden Überhitzung in Städten von Relevanz. Wir haben uns z.B. mit Paris beschäftigt, wo es stets eine prekäre Hitzelage im Sommer gibt und die derzeitige Bürgermeisterin grüne Inseln schaffen will. Auch hier in Wien entstand in der Zieglergasse eine „kühle Meile“ mit Bäumen, Sprühnebel etc. Das Hitzethema hat große Auswirkungen für den öffentlichen Raum und seiner Aufenthaltsqualität, die bis in die anschließenden Wohngebäude hineinwirkt. Mit meinen Studierenden an der Universität Kassel habe ich ein Jahresthema über „Baum und Raum“ bearbeitet, um einen neuen Naturbegriff zu entwickeln, in dem wir den Baum als gleichberechtigten „Nutzer“ eines Gebäudes angenommen haben. Wir machten eine Bedarfsanalyse – sowohl für den Baum als auch für die Bewohner. Das ist ein wenig schräg, aber so konnte man von der oberflächlichen Begrünungsbetrachtung und simplen Schattenspendern zu kreislaufbewussten Ideen kommen, wo auch das Caring wichtig ist. Nicht nur ein einseitiges Nutzen, denn Pflanze und Mensch bedingen sich wechselseitig.
Ist das der Beginn einer Kulturrevolution, die alle Lebewesen als gleichberechtigte Stakeholder in der Umweltgestaltung definiert? Wir die urbane Zivilisation komplett renaturiert?
MTH: Die Natur ist vermutlich ohnehin stärker als der Mensch. Die Bäume in der Stadt brauchen ihren Platz, etwa einen großen Wurzelraum. Es geht auch um die Bodenqualität, der Boden darf nicht zu dicht sein. Zudem gibt es Stressfaktoren für Bäume, die sich dann nicht entwickeln können. Studierende wissen nun, dass sie mit einem gewissen Volumen arbeiten müssen, wenn es um Vegetation geht. Wir haben viel über Kreisläufe nachgedacht. Etwa über Plantagen und Wälder über der Stadt. Urban Farming ist ja schon ein älteres Thema, spätestens seit dem Projekt „Pig City“ von MVRDV aus 2001. All das hat mit Bewusstsein über die Vielzahl der involvierten Faktoren zu tun, auch mit der psychologischen Ebene. Etwa bei den Baumscheiben-Flächen, die nun öfter von Anrainern bepflanzt werden können – einzelne Quartier-Bewohner übernehmen hier die Bepflanzung von Baumscheiben, die damit zu Pflanzbeeten werden, sogar Gemüse könnte man hier anbauen. So beginnt man sich um den Ort zu kümmern und andere tun das dann auch. Daraus wird ein natürlicher Kreislauf für den Stadtmensch restituiert. Das ist mehr als Behübschung, das führt zu einer Sensibilisierung von Naturverständnis. Ein sehr spannendes Thema. Tatsache ist jedenfalls, dass wir ein Hitzeproblem haben. Jeder Baum, der entlang eines Weges gepflanzt wird, ist wichtig und dafür muss genügend Platz eingeräumt werden.
EJF: Beim Matzleinsdorfer Platz in Wien haben wir uns ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt. Die Situation dort ist äußerst heterogen, durchschnitten von Verkehrsflächen. Der „Platz“ hat das Glück, dass nebenan ein Friedhof liegt, mit einem bestens gepflegten historischen Baumbestand und einer beeindruckenden Friedhofskapelle vom großen Ringstraßenarchitekt Theophil Hansen. Das wird so bleiben, weil es eben ein Friedhof ist – sonst wäre diese Fläche längst zugebaut worden. Darüber kann man sehr glücklich sein. Der Matzleinsdorfer Platz ist eigentlich kein Platz, weil er mit der Bahntrasse, einem großen Straßenausbau auf allen Ebenen, zerschnitten wurde. Und nun avancieren die Bahngleisränder zur Bauressource. Darunter kommt die neuen U-Bahnlinie U5. Wie kann hier öffentlicher Raum aussehen, mit Verkehrsflächen auf mehreren Ebenen? Dazu kommen noch Fußgänger und Radfahrer, die getrennt zu behandeln sind wegen der Sicherheit. Radwege sind überhaupt schon längst ein komplexes Sicherheitsthema. Der öffentliche Raum sollte am Matzleinsdorfer Platz vertikal verteilt werden. Man will hier eine Hochbebauung bis 90 Meter Höhe realisieren. Da muss man in der Vertikalen auch Ebenen, Layer einführen, die öffentlich zugänglich sind. Wenn man eine große Dichte an Büros, Konsumationen, Märkte etc. schafft plus Wohnraum, dann ist es wichtig, dass man öffentliche Bereiche zwischen diesen Ebenen vorsieht. In unmittelbarer Nähe gibt es auch den Waldmüllerpark, den müsste man wie den Grünraum Friedhof am Matzleinsdorfer Platz bereits spüren können, wenn man aus der U-Bahn die Oberfläche erreicht. Dieses Verweben und Zueinander in Beziehung bringen ist die Herausforderung an diesem Ort.
Welchen öffentlichen Raum in Wien würdet ihr am liebsten gestalten?
EJF: Spontan gedacht würde ich gerne den Matzleinsdorfer Platz gestalten, da haben wir uns bereits stark vertieft. Wir waren hier in einem kooperativen Verfahren von der Stadt Wien als externe Berater zugeladen. Es gab hier bereits zahlreiche Projektierungen, aber die Stadt wollte den Stadtentwicklungsprozess in einem kooperativen Verfahren mit zugeladenen Büros neu aufsetzen. Wir haben in einer Studie Möglichkeiten untersucht, um gewisse Verhältnismäßigkeiten für Umwidmungen zu erhalten. Wie hoch kann gebaut werden, wieviel BGF wird verbaut, was ist verträglich, in welchem Verhältnis steht Freiraum-öffentlicher Raum und Bebauung, wie zirkuliert der angrenzende Stadtbezirk Favoriten, was macht die große Südmagistrale der Triester Straße. Alles unter Einbeziehung von Verkehrs-, Landschafts- und Architekturplanung. Das alles haben wir eingesammelt und eine Grundlage geschaffen.
Folgt auf diese Grundlagenstudie noch ein Wettbewerb?
EJF: Da man Hochhäuser realisieren möchte, wird man zumindest dafür gesetzeskonform auch Planungswettbewerbe veranstalten müssen. Meiner Ansicht nach sollte ein Städtebaulicher Wettbewerb für den gesamten Stadtbereich ausgeschrieben werden und nicht nur Objektplanungen. Der Matzleinsdorferplatz ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mitten im Wiener Stadtgefüge. Es gibt private Investoren, die hier bauen wollen. Viele Flächen sind privat, die ÖBB verkauft Teile ihrer Bahnflächen. Allein diese komplexen Eigentumsverhältnisse sind schon eine Herausforderung, um öffentlichen Raum für die Wiener Stadtbevölkerung sicherzustellen.
Wie entstehen solche überdachte öffentliche Plätze bei Euren „Salzwelten“?
MTH: Zu den „Salzwelten“ muss man gezielt hinfahren auf den Dürrnberg hinauf, um das anzusehen. Da kommt man nicht zufällig vorbei. Trotzdem soll am Areal das Gefühl des Flanierens mit flexibel nutzbaren Zwischenzonen entstehen. Man soll nicht in einen Parkour eintauchen, durch den man einfach nur durchgeschleust wird. Wir wollen ein inspirierendes Environment zwischen historischer Information, Café, Keltendorf, Spielplatz, Ausblick in die Umgebung etc. aufspannen. Hier gibt es einen alten Baubestand, ein Betriebs Ensemble, dem wir mehrere Elemente hinzufügen. Diese formulieren und aktivieren die Zwischenräume. Etwa die überdachte Plaza. Hier treffen viele Funktionen zusammen – es gibt atmosphärisches Licht über das gefärbte Glasdach, so schaffen wir spezifische Raumqualitäten. Von uns werden nicht nur Funktionen erfüllt, sondern Räume die offen sind für vieles. Schattenspendender Raum im Allgemeinen schafft stets räumliche Qualität und Atmosphäre.
Das interessiert uns, das vermittelt zwischen Außen und Innen. Dergleichen versuchen wir gerade beim Museum der Heidi Horten Collection in Wien zu schaffen. Das Haus liegt in einem historischen Innenhof. Wir schaffen hier eine grüne Insel mit Skulpturen und ohne Einfriedung, mit dem Wunsch, dass es hier keine Autos gäbe. Dieser Innenhof wird durch das Museum nun um einiges „öffentlicher“.
Der Hanuschhof, in dem das Museum liegt, ein ehemaliges Nebengebäude des Residenzschlosses Albertina, sollte besser öffentlich durchwegt werden und die Autos sollten wegkommen.
MTH: Die Vorstellung, rund um die Albertina keinen Autoverkehr zu haben – da würde sich die Situation sofort total verändern. Die Hauptschwierigkeit ist der zirkulierende Verkehr und dessen Verkehrsadern, die alles in Inseln zerschneiden. Da sind keine Begegnungszonen vorhanden, die aber einen öffentlichen Raum ausmachen.
EJF: Auf der Augustinerbastei beim oberen Eingangsniveau der Albertina mit dem Flugdach von Hans Hollein gibt es schon eine gute Freiraumqualität. All dies passiert auf mehreren Ebenen. Wenn man vom öffentlichen Raum spricht, geht es um viel mehr als nur das Erdgeschoss, öffentliche Räume sind mehrgeschossig: so muss man das betrachten und darüber nachdenken. Wo und wie ist die Schwelle zwischen öffentlich und anderen Funktionen? Wir hatten etwa in unserem Projekt „Stadtwind“ die Schwelle verschoben, indem wir die Glaswand eines Geschäftslokals entfernten.
MTH: Das war ein leerstehender Obst- und Gemüseladen in der Schönbrunnerstrasse im 5. Bezirk. Wir haben als Intervention die Verglasung entfernt und eine Rampe mit begehbarer Hochebene eingebaut. Der Passant selbst bestimmte nun, ob dieser Raum öffentlich oder privat ist – je nachdem, ob er ihn in Besitz nimmt oder nicht. Die Installation war für zwei Wochen rund um die Uhr zugänglich. Wir können den NutzerInnen bestimmte Dinge nahelegen, aber entscheiden sollen diese selbst.
Im Jahr 2000 haben wir einen „raumhältigen Zaun“, ich mit Florian Haydn, realisiert – um eine ehemalige Betonfertigteilfabrik, die von der niederösterreichischen Gemeinde Hof am Leithaberge als Kulturort verwendet wird, einzufrieden. Wir sagten, dass man Kultur nicht wegsperren kann, sie muss 24 Stunden zugänglich bleiben. So haben wir aus aufrechtstehenden Betonringen einen 130 m langen Zaun gebaut, durch den man durchgehen kann. Mittels Fugen in den Ringelementen wird er belichtet, über Schiebetüren kann man schalten, wohin der Weg führt, nachts ist die Beleuchtung mit der örtlichen Straßenbeleuchtung gekoppelt. Wir nennen den Zaun „Blindgänger“.
Zurück zur Kernstadt – welche Innovationsstrategien wären da sinnvoll?
MTH: Ich finde das Konzept der produktiven Stadt spannend und zukunftsweisend. Kleinunternehmer, Startups etc. die in ihrem Laden z.B. nähen, kochen, arbeiten und verkaufen. Konzepte und Initiativen, bei denen sich Leute zusammenschließen, um gemeinsam im Laden etwas zu verkaufen. Produktion und Verkauf liegen hier nahe beieinander. Das macht uns unabhängiger.
Was Arbeitszeiten betrifft finde ich das bereits angedachte Drittelmodell sehr vielversprechend: ein Drittel der Arbeitszeit für die Arbeit, ein Drittel der Arbeitszeit für die Gemeinschaft und ein Drittel für die Familie im weitesten Sinne. Die Arbeitswelten werden sich ändern, dann sollte es in diese Richtung gehen. So könnten Initiativen wie die Innenstadt-Kleinunternehmen möglich werden. Es geht dabei nicht um Freizeitgestaltung, sondern um ein selbstbestimmendes Lebensmodelle. Und diese Modelle haben alle nichts mehr mit dem traditionellen Wachstumsdenken zu tun.
Die Evolution ist vielleicht weniger deterministisch, als man es annehmen würde. Sie ist nicht zielorientiert, sondern experimentiert gedankenlos.
MTH: Als „the poor boys‘ enterprise“ haben wir ein Projekt realisiert, das „97 Stühle“ hieß. Wir haben u.a. darüber nachgedacht, was „Funktion“ in der Architektur bedeutet. Räume und Dinge, die keine „Funktion“ mehr haben, also etwa Stadtbrachen, Abrisshäuser oder Müllplätze besitzen Charakter. Sie erzählen ein Narrativ, besitzen Eigenschaften und sind frei, alles sein zu können. Das inspiriert und schafft Möglichkeiten der flexiblen Nutzung. Deswegen wünschen wir uns stets möglichst viel Flexibilität – indem wir keine „neutralen“ Räume schaffen, sondern atmosphärisch aufgeladene und spezifische Räume (auch Funktionen) mit „Luftblasen“ für zukünftige Möglichkeiten.