Media Review

Querschnitt ruraler Maßstäbe

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Der urbane Raum ist nicht mehr der alleinige Fokus der Stadt- und Raumforschung – auch sein rurales Gegenstück findet immer öfter Erwähnung in der Architekturliteratur. Im Gegensatz zu bekannten Begriffen wie Landflucht und Brain-Drain in Richtung urbaner Zentren, werden Thematiken wie partizipative Planungsprozesse am Land und Rückbesinnung auf vernakuläre Baukultur immer wichtiger. Diese Auswahl aktueller Beiträge verdeutlicht den Abwechslungsreichtum des aktuellen Diskurses.


 

 

Wo endet Stadt und wo beginnt Land? Wie begegnen wir territorialen Ungleichheiten? Einen guten Überblick über aktuelle Transformationen im ländlichen Raum bieten die gesammelten Beiträge im GAM 15 – Territorial Justice der TU Graz. Die Gastredakteurinnen Aglaée Degros (Professorin für Städtebau an der TU Graz) und Eva Schwab unterteilen den Band in drei Abschnitte: In den Bereichen Semantics, Dynamics und Pragmatics begegnen verschiedene AutorInnen dem Thema mit unterschiedlichen Zugängen. Die Beiträge behandeln vorwiegend den europäischen Raum: so dokumentiert beispielsweise eine Fotoreportage des Urban Reports Collective, die sich ähnelnden Randbedingungen von vier Städten. Weiters unterstreichen Interviews – unter anderem mit Roland Gruber vom Architekturbüro nonconform – die Bedeutung partizipativer Planungsprozesse oder erzählen von der Landflucht Italiens und dem daraus resultierendem neuen Potential.

 

TU Graz
GAM 15, Territorial Justice
308 Seiten, Text deutsch/englisch, jovis, € 19,95

 

Um den ländlichen Raum Italiens geht es auch in der Dokumentation Ciao Aracà von Daniel Chisholm. Der Film berichtet vom Leben in dem kleinen Bauerndorf Aracà und zeigt sehr anschaulich die drastischen Auswirkungen einer sich rasch wandelnden Landwirtschaft. Die Kamera folgt stumm den übrig gebliebenen, alternden BewohnerInnen des Bergdorfs und dokumentiert ihren Alltag, während das Publikum von den idyllischen Landschaftsaufnahmen verlockt wird, seine Koffer zu packen und eine Reise in die Luganer Voralpen zu unternehmen. In der melancholischen Auseinandersetzung mit Zeit, Veränderung und Verlust findet aber auch die Hoffnung einen Platz und zeigt neue Perspektiven auf: Die nächste Generation, die die traditionellen Werte der Großeltern mit moderner Technologie verbindet, versucht, das Dorf wieder zu beleben.

 

Daniel Chisholm
Ciao Aracà
62 min., italienisch, Grenadine Film

Ciao Araca

 

In Lo-TEK – Design by Radical Indigenism von Julia Watson geht es ebenso um das Lernen von traditioneller Architektur. Mit dem überaus hochwertig gestalteten Buch schafft die Autorin ein neues Nachschlagewerk zu indigenen, nachhaltigen und klimaresistenten Infrastrukturen. Die bewusste Anlehnung an Bernard Rudofskys „Architecture without Architects“ ist hier nicht zu hoch gegriffen. Gegliedert in die Kapitel Berge, Wälder, Wüsten und Sumpfgebiete beschränkt sich die Dokumentation nicht auf bestimmte Länder, sondern schafft ein holistisches Bild. Die oft jahrhundertealten Bauarten reichen von lebendigen Wurzelbrücken über den Bau von Reisterrassen, bis hin zu unterirdischen Aquädukten. Illustriert mit zahlreichen Bildern sowie analytischen Zeichnungen, stellt die Autorin vielfältige Ansätze gegenüber und macht so den Begriff der simultanen Innovation deutlich.

 

Julia Watson
Lo—TEK. Design by Radical Indigenism
420 Seiten, Text deutsch, TASCHEN, € 40,–

 

LO-TEK Buch

 

Einen singulären Zugang verfolgt hingegen Andrea Bocco Guarneri in Vegetarian Architecture. In zwölf Fallbeispielen hinterfragt der Autor, was „gute“ Architektur ist und verdeutlicht dies mit der Analogie zu Essen: Ernährung ist dann hochwertig, wenn sie uns nährt und unsere Gesundheit schützt. Parallel dazu propagiert er Baumaterialien auf pflanzlicher Basis. Verschiedenen Beispiele, vorwiegend aus Japan und dem deutschsprachigen Raum veranschaulichen das.

 

Andrea Bocco Guarneri
Vegetarian Architecture
240 Seiten, Text englisch, jovis, € 32,00

Vegetarian Architecture Buch

 

Einen erfrischend sachlichen Zugang zum Thema Planen und Bauen im ländlichen Raum findet man hingegen in Stadtplanung in den Alpen von Fiona Pia. Konsequent und nachvollziehbar analysiert die Architektin fünf Alpendörfer und verdeutlicht, dass nicht die Urbanisierung, sondern die Zersiedelung die problematische Verdrängung des „unberührten“ Alpenraums verursacht. Anhand verschiedener Beispiele aus der Schweiz, Frankreich und Kanada untersucht sie Strategien zur Verdichtung der Orte und möglicher neuer Mobilitätsinfrastrukturen. Abgerundet wird die Publikation mit einem städtebaulichen sowie architektonischen Konzept, das die existenzfähige Größe alpiner Urbanität exemplarisch für den Schweizer Skiort Verbier erforscht.

 

Fiona Pia
Stadtplanung in den Alpen
192 Seiten, Text deutsch, Birkhäuser, € 49,95

Stadtplanung in den Alpen

 

Während Fiona Pia mit städtischen Verdichtungsstrategien versucht, die „unberührte“ Landschaft und den Blick auf diese zu erhalten, erzählt Albert Kirchengast in Das unvollständige Haus – Mies van der Rohe und die Landschaft, wie der Altmeister der Moderne seine Landhäuser mit der umgebenden Landschaft in Beziehung setzte. In dem Buch, das äußerst erfolgreich den Anspruch an sich stellt, ein „Theorie-Lesebuch“ zu sein, werden Mies van der Rohes Begriffe der „Struktur“ und der „Lebendigen Konkretheit“ verbunden sowie  der Zusammenhang zwischen Wohnraum und Landschaft erforscht. Das Buch verzichtet auf einen wissenschaftlichen Aufbau, jedoch nicht auf eine stringente Argumentation. Der somit erwirkte Spannungsbogen reicht von den frühen Jahren Mies van der Rohes bis zur Ausreifung einer Theorie des modernen Landhauses als Resonanzraum.

 

Albert Kirchengast
Das unvollständige Haus
408 Seiten, Text deutsch, Birkhäuser, € 49,95

Das unvollständige Haus Buch

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